Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
meine Mutter weinte. Hin und wieder ertönte ein leises Schluchzen. Aber vielleicht habe ich mich auch getäuscht, und sie hatte einfach nur Schnupfen.
Auf einmal war alles vorbei. Wie ausgeknipst. Keine Stimmen, keine Geräusche, kein Froschquaken, selbst das gleichmäßige Rauschen unserer Stromschnelle war weg. Alles war auf einmal ruhig. Totenstill. Dabei wurde mir immer leichter. Als schwebte ich wie eine Feder, die von einem Windhauch erfasst durch die Luft gewirbelt wird. Ich war frei. Der Mond schien näher zu kommen, und meine Eltern blieben weit unter mir zurück.
Ich schwebte tatsächlich, doch nicht etwa in der Luft, sondern im kühlen Nass des Flusses. Über mir der unendlich weite Himmel. Der große, runde Vollmond. Das gleichmäßige leise Rauschen der Stromschnelle wurde langsam wieder lauter. Der Ruf eines Käuzchens aus dem Urwald. »H uhui, huhui.« Bleib wach, bleib wach … Das sanfte Plätschern der kleinen Wellen, die meine Eltern durch ihre Bewegungen verursachten. Sie schwenkten mich im kühlenden Flusswasser. Am Ufer stießen unterdessen die vertäuten Bootskörper der Einbäume mit einem dumpfen Geräusch gegeneinander. Tonk, tonk. Tonk, tonk.
Das Flusswasser drang in meine Ohren, in meine Nase, meine Augen. Ein paar Hände unter meinem Rücken sorgten dafür, dass ich nicht unterging. Es waren Papas Hände, was ich am Druck des Edelstahlarmbands seiner Uhr bemerkte. Das feingliedrige Armband blieb immer wieder in meinen Nackenhaaren hängen, was ziepte.
Für den Bruchteil einer Sekunde schoss mir durch den Kopf, dass wir im Dunkeln so im Fluss stehend den Wasserschlangen ausgeliefert waren, den Raubfischen und möglicherweise sogar den Krokodilen, die lautlos durch das Wasser glitten und die man höchstens an ihren glühenden Augen erkannte, wenn man sie mit einer Taschenlampe anstrahlte. Auch gab es Riesenotter, die uns beißen konnten. Es schüttelte mich. Die Warnungen von Großmutter Antonia hallten mir im Ohr: »G eh niemals alleine nach Einbruch der Dunkelheit ans Flussufer.« Doch wenn meine Eltern bei mir waren, musste die Lage halbwegs sicher sein.
Beide schienen jedenfalls überhaupt nicht an die Gefahren im dunklen Wasser zu denken. Oder es war ihnen egal. Für sie war das Bad im Fluss ein Hoffnungsschimmer in einer todernsten Situation. Zwar hatte ich mich schon tagelang über Bauchschmerzen und Unwohlsein beklagt, auch hatte ich im Gegensatz zu sonst kaum Appetit gezeigt, doch an Malaria hatte keiner gedacht. Und als sie endlich draufgekommen waren, wäre es beinahe zu spät gewesen.
Im kühlen Wasser treibend und zwischenzeitig wieder kurz wach, betrachtete ich die Schönheit des Sternenhimmels. Wenn man das Firmament lang genug anschaute, konnte man richtige Bilder entdecken. Formen und sogar Figuren. Ein atemberaubendes Bild. Der riesengroße Mond überstrahlte alles mit seinem bleichen Licht. Ich meinte sogar in den Flecken der Mondkrater die Konturen eines Gesichts zu erkennen. So bewusst hatte ich den Mond noch nie wahrgenommen. Gerne hätte ich meinen Eltern gesagt, wie gut mir unser nächtliches Flussbad gefiel. Es war so friedlich und still. Ein magischer Moment, der nur uns dreien gehörte.
»S chaut doch mal hoch«, dachte ich noch, dann wurde plötzlich alles ganz dunkel. Der Mond war ausgeknipst, die Sterne waren erloschen, der Druck der Hände unter meinem Nacken und Rücken ließ nach. Meine Eltern waren weg. Der Fluss, das Dorf. Alles. Ich hatte keine Schmerzen mehr, kein Unwohlsein, ich fühlte weder Hitze noch Kälte, war losgelöst von allem, wie ein Luftballon, den man von seiner Schnur losgeschnitten hatte.
Wie lange dieser Zustand andauerte, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur, dass ich keine Angst hatte und dass ich meine Eltern gerne beruhigt hätte. Sie mussten nicht so ernst schauen, es ging mir so gut, wie schon lange nicht mehr.
»S ie stirbt uns unter den Händen weg!«
»B ring sie an Land!«
»H ast du die Spritze dabei? Gib sie ihr doch endlich!«
»N ein du, ich kann das nicht.«
»D u musst!«
Plötzlich der Stich einer Nadel, die ganz und gar unsanft in meine Haut gerammt wurde. Ein anhaltender Schmerz, auch als die Nadel schon längst wieder herausgezogen war.
An den Rückweg zu unserer Hütte erinnere ich mich überhaupt nicht mehr.
Nach dem schweren Malariaanfall dauerte es eine ganze Weile, bis ich wieder richtig auf den Beinen war. Mein Vater hatte mir am Fluss vermutlich Resochin gespritzt; zurück in unserer
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