Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
nickte und murmelte: »H mmm.«
»U nd wenn dich wilde Tiere mit Haut und Haaren auffressen, dann gebe ich ein Fest.«
Wieder »Hmmm«, verständnisvolles Kopfnicken.
Ich kringelte mich vor Lachen. Mit seinen Gedanken war mein Vater überall, nur nicht bei den banalen Dingen des Alltags. Essen, Kochen, Kleidung, Einladungen, das alles lief für ihn nebenher, war nicht weiter erwähnenswert. Er wäre vermutlich verhungert und verdurstet, wenn andere sich nicht um sein leibliches Wohl gekümmert hätten.
Seinen nächtlichen Patienten jedenfalls versorgte mein Vater zum Abschied mit vielen guten Ratschlägen und »T abletten« gegen die Schlaflosigkeit. Es war eine Packung Traubenzuckerdragées.
Einige Tage später erschien der Mann wieder mitten in der Nacht an Papas Hängematte. »T am, ich wollte dir nur sagen, dass mir deine Medizin sehr geholfen hat. Ich kann jetzt gut schlafen. Ich glaube, ich bin wieder gesund.«
Bald darauf hatte der Mann eine neue Frau, und ein dreiviertel Jahr später kam er mit seinem neugeborenen Sohn vorbei. »I ch will, dass du ihm deinen Segen gibst. Er soll nach dir benannt werden. Eimo Alenani.« Der Junge Alenani. Alenani war der Name, den die Aparai meinem Vater gegeben hatten.
Bei ernsthaften Krankheiten wie Malaria half natürlich kein Traubenzucker mehr, auch bei Grippe musste man zu massiveren Mitteln greifen.
»V erantwortungslos, diese Beter. Ist das etwa christliche Nächstenliebe?«, polterte mein Vater, wenn er erfuhr, dass Missionare irgendwo am Amazonas wieder einmal die tödlichen Viren eingeschleppt hatten. Für uns nicht weiter schlimm, konnten Grippeviren mühelos einen ganzen Indianerstamm ausrotten, was leider immer wieder vorkam. Und sogar heute noch vorkommt. Was die Missionare, meist Vertreter nordamerikanisch-evangelikaler Sekten, nicht davon abhielt, die Quarantänezeiten wiederholt zu ignorieren. Wussten sie nicht, dass Ureinwohner keine Abwehrkräfte gegen unsere Viren besaßen? Dass eine einfache Erkältung der Weißen für Indianer lebensbedrohlich sein konnte? Das stand doch in jedem Tropenratgeber. »A ber es scheint ihnen wichtiger, möglichst viele Heiden zu bekehren. Na, wenigstens kommen sie dann in den Himmel, wenn sie an den Krankheiten der Weißen eingegangen sind«, giftete mein Vater.
Ein wichtiger Aspekt bei der Planung der Urwaldapotheke war deshalb, wie man Mashipurimo und die Dörfer in der Umgebung für größere Epidemien rüsten könnte. In Aldeia Bona zum Beispiel grassierte wiederholt Keuchhusten. Die Menschen husteten so stark, dass sie blutunterlaufene Augen bekamen, weil die feinen Äderchen durch den Druck platzten. Meine Eltern wollten einen größeren Vorrat an Medikamenten für derartige Fälle in Mashipurimo lagern. Mehrmals flogen wir nach Belém, wo meine Eltern bei Ärzten, die sie kannten, und in Krankenhäusern um Unterstützung für die Urwaldapotheke warben. Ihr Anliegen stieß auf offene Ohren. Sie sammelten Medikamente ein und ließen sich von den Ärzten im Umgang mit diversen Krankheiten unterrichten. Währenddessen musste ich stundenlang in irgendwelchen Vorzimmern warten und still sein. Die Zeit zog sich endlos, Ablenkung gab es kaum. Nur einmal beobachtete ich gebannt, wie die bleiche Büroleuchte mit ihrem grellen Neonlicht unzählige Insekten anlockte. Immer wenn eine Fliege in die Nähe der Glühbirne gelangte, verbrannte sie und blieb leblos auf dem Boden der Lampe liegen. Bis die Erwachsenen endlich fertig waren und einen Cafesino zum Abschied tranken, war der Lampenboden über und über mit toten Fliegenkörpern bedeckt, und die Lampe spendete kaum noch Licht. Als wir am nächsten Tag das Zimmer des Arztes wieder betraten, der meinen Eltern eine Kiste mit Verbandsmaterial und Ampullen überreichte, war von den toten Fliegen keine Spur mehr zu sehen.
Dachkonstruktion der neuen Urwaldapotheke
Endlich war es so weit! Unter der Regie meiner Mutter entstand in Mashipurimo die erste Urwaldapotheke am Rio Paru. Ein kleiner schmucker, runder Holzpavillon mit einem spitz zulaufenden Palmblätterdach. Mehr ein Türmchen, denn ein Haus. Die Bauarbeiten versetzten das ganze Dorf für mehrere Tage in helle Aufregung. Alle erwachsenen Männer packten mit an. Allein wegen des Palmblätterdachs mussten sie mehrere Stunden flussabwärts fahren. Nur in einer Ebene, weit hinter Aldeia Bona, wuchs die spezielle Palmenart, deren Wedel sich für ein dichtes Dach eigneten. Sie wurden geschnitten und in Bündeln mit dem
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