Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Vermittlung des Zauberers sprechen könnte. Doch mir fiel beim besten Willen keiner ein. Alle, die ich liebte, lebten noch, und diejenigen aus meiner Familie, die bereits gestorben waren, kannte ich nicht. Nein, gab ich Koi zu verstehen, ich wolle mich lieber nicht mit den Verstorbenen unterhalten, mir reichten die Leute in unserem Dorf. In Wirklichkeit hatte ich einen Heidenrespekt vor den Toten, und die Aussicht, mit ihnen zu sprechen, war mir viel zu unheimlich.
All diese Erzählungen führten dazu, dass ich mir im Laufe der Zeit ein ganz bestimmtes Bild von Zauberern machte. Ich stellte mir vor, dass diese Mächtigen der alten Zeit außergewöhnlich schöne Tanzmäntel mit prächtigen Federkronen trugen und dass sie lange Pfeifen rauchten, wodurch sie in Trance versetzt wurden und mit den Geistern der Ahnen sprechen konnten. Ich war fasziniert und erschrocken zugleich, wenn ich nur daran dachte, eines Tages vielleicht so einem mächtigen Zauberer zu begegnen. Ob er auch meine Gedanken lesen und in die Zukunft sehen konnte?
Großvater Araiba machte mir da wenig Hoffung. Die wirklich großen Zauberer seien inzwischen allesamt verstorben. Oder von christlichen Missionaren vertrieben worden. Behauptete er zumindest. Und Araiba musste es ja wissen. Weil es kaum etwas gab, was er nicht wusste. Gut, ein paar Zauberer gebe es heute schon noch, aber die ließen sich ihre Dienste mit Perlen, Messern und Angelruten bezahlen, was die Zauberer der alten Zeit natürlich gar nicht nötig gehabt hatten. Araiba schüttelte verächtlich den Kopf. Nein, nein, so würdevolle Zauberer wie in der alten Zeit … und gute Heiler seien sie auch nicht mehr. Besser, man verließ sich auf Medikamente, die mehr halfen als der Tabakqualm eines Zauberers, setzte Araiba hinzu.
Araiba hatte die Zeit der Zauberer wehmütig für beendet erklärt, aber ich wollte mich damit nicht zufrieden geben. Beiläufig erkundigte ich mich eines Abends, wie man überhaupt zum Zauberer bestimmt werde. Das Kochfeuer von Antonia knisterte leise. Und Araiba, der hinter meiner Frage eine bestimmte Absicht erkannte, murmelte, dass man nicht einfach so zum Zauberer werde. Jedenfalls nicht so, wie man durch Übung zum Jäger, zum Fischer oder zum Bootsbauer werde. Zum Zauberer müsse man schon von Geburt an bestimmt sein. Nur ein alter Zauberer könne erkennen, ob ein Kind dazu auserkoren sei oder nicht. Erst dann nehme er es unter seine Fittiche. Der Nachwuchszauberer müsse zum Beispiel Ereignisse in seinen Träumen vorhersehen können. Doch so sehr ich auch darüber nachdachte, weder in Mashipurimo noch in Aldeia Bona kannte ich ein Kind, auf das diese Beschreibung passte. Aber wenigstens hatten Koi und ich wieder mal einen neuen Zeitvertreib. Wir spielten Zauberer, überlegten uns abenteuerliche Zeremonien – und übten angestrengt, in die Zukunft zu sehen.
Araiba bei der Herstellung einer Kürbisrassel
Palaver im Rundhaus
Großmutter Antonia hatte unser Spiel schon eine Weile kopfschüttelnd beobachtet, als sie mich eines Tages zur Seite nahm. Wenn mich das wirklich so interessiere, dann wolle sie mich in das Protokoll für den Besuch eines Zauberers einführen, aber nur, wenn ich verspräche, keine weiteren Dummheiten zu machen. Keine weiteren Spielchen mit ausgedachten Zauberformeln, dafür sei der Anlass zu ernst. Mit der Zauberei mache man nämlich keine Scherze. Mir verging das Lachen, als ich die Entschlossenheit in ihren Augen erkannte. Zauberformeln seien nur etwas für Menschen, die mit dieser Macht umzugehen verstünden. Manchmal hatte ich den Verdacht, dass in Antonia selbst eine Portion Zauberin steckte. Sie war unbestritten weise, sie war mutig, nahm kein Blatt vor den Mund und segnete das Essen mit Schutzformeln aus uralter Zeit. Überhaupt wusste Antonia einiges über die alten Bräuche, und selbst mit Tinkturen aus der Natur kannte sie sich einigermaßen aus. Ihr Schutz hat mich schon vor so manchem Unheil bewahrt. Zumindest bin ich davon überzeugt, dass ich auch dank ihres Segens manch schlimme Situation unbeschadet überstanden habe.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen – Klammeraffe im Pfeffersud – bat mich Antonia, noch ein Weilchen zu bleiben, und bedeutete mir, auf Araibas Holzbänkchen Platz zu nehmen. Das allein war schon eine besondere Geste. Sie nahm ihre Aufgabe, mich in der Aparai-Tradition zu unterrichten, sehr ernst, dozierte im Stehen und erklärte, wie man sich beim Besuch eines Zauberers zu benehmen hatte. Zuerst
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