Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
einmal hatte man einen Zauberer angemessen zu begrüßen, indem man ihm Respekt erwies. Man musste also besonders höflich sein und Ehrfurcht zeigen. Das fing schon mit der Begrüßungsformel an. Antonia ließ mich wissen, dass man einen Zauberer in etwa so begrüßte, wie einen Häuptling aus einem fernen Dorf: voller Hochachtung. Anschließend sollte man den Zauberer in das schönste Haus im Dorf führen oder besser noch ins Polootoppo. Dort halte man eine Weile Palaver, um ihn milde zu stimmen, und rauche eine Zigarre mit ihm. Wobei der Zauberer auf dem schönsten Tierbänkchen Platz nehmen dürfe, während man selbst im Schneidersitz auf dem Boden verharren müsse.
»U nd wenn man gar nicht rauchen mag, weil es so furchtbar stinkt und danach ganz schlimm im Hals kratzt?«, erkundigte ich mich.
Antonia betrachtete mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Langsam schien ihr zu dämmern, dass Großvater Araiba, der hinter dem Dorf eine kleine Tabakplantage für den Eigenbedarf betrieb, mich an seinen selbstgedrehten Zigarren hatte paffen lassen, was ihr gar nicht gefallen wollte.
»D ann raucht man trotzdem eine Zigarre, denn es gehört sich so. Es ist Teil der Begrüßungszeremonie«, antwortete sie bestimmt. Nichts schien sie heute aus der Fassung bringen zu können. Hatte sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt, dann hielt sie es auch durch. Heute wollte sie mich erziehen, was ihr oftmals besser gelang als meinen Eltern.
Danach müsse man mit dem Zauberer Gespräche über dies und jenes führen. Man könne sich zum Beispiel nach seinen Erfolgen erkundigen.
»U nd wenn man sich vor lauter Angst gar nicht traut, mit ihm zu sprechen?«, hakte ich nach. Bei erwachsenen Besuchern aus anderen Aparai-Dörfern verschlug es mir nämlich oft die Sprache. Nicht selten flüchtete ich bei Anlässen, bei denen ich offiziell vorgestellt werden sollte.
»D ann lässt man sich die Angst einfach nicht anmerken und erzählt etwas über das Wetter oder den Wasserstand des Flusses oder über die Jagd oder über die neuen Boote«, fuhr Antonia unbeirrt fort. »D ann verfliegt die Angst ganz von alleine, weil man nicht mehr an sie denkt.«
An diesem Nachmittag lehrte mich Antonia nicht nur, wie man höflich Konversation macht, sondern noch etwas viel Wichtigeres: dass man Respekt niemals mit Angst verwechseln darf.
Hatte man diesen Teil der Zeremonie einigermaßen überstanden, führte man den Zauberer zur Mitte des Dorfplatzes, wo in der Zwischenzeit von den Anwohnern eigens für diesen Anlass ein Toponokari errichtet worden war. Von der Funktion her war der Palmblätterverschlag so etwas wie ein Beichtstuhl. Der Zauberer war von den anderen durch ein Holzgestell mit einem Palmblättervorhang getrennt. Man sprach miteinander, konnte sich dabei aber nicht in die Augen sehen.
Rohling eines Aparai-Tierbänkchens
Als ich später in Deutschland zum ersten Mal in einer Kirche einen Beichtstuhl betrachtete, fiel mir die ähnliche Anordnung auf. Der Beichtstuhl schafft eine eigenartige Nähe zwischen Beichtvater und Beichtendem, während die Trennwand gleichzeitig für Distanz sorgt. Der Geistliche war mit dem »H eiligen Geist« verbunden, während der Gläubige dessen Rat suchte. Oder um Vergebung bat oder beides. Man vertraute sich einem vollkommen Fremden an, der sich dieses Vertrauen durch seine Spiritualität erworben hatte.
Ganz ähnlich verhielt sich das auch bei einer Sitzung mit dem Zauberer. Aus dem Toponokari konnte der Zauberer einen mächtigen Geist ins Jenseits schicken. Der Palmblätterverschlag gab dem Zauberer dabei den nötigen Sichtschutz, damit er unbeobachtet von neugierigen Augen mit den Geistern der Ahnen sprechen konnte, wenn er darum gebeten wurde. Oder wahlweise mit gefährlichen Geistern, die es zu beruhigen galt.
Antonia zeichnete die Sitzordnung in die Luft. Alle Dorfbewohner mussten um das Toponokari herumsitzen und ganz still sein, um zu hören, was der mächtige Zauberer sagen würde. In Trance und mit einer fremden Stimme würde er all das verkünden, was er im Jenseits vernommen hatte. Manchmal durfte man ihm auch Fragen stellen, und der Zauberer würde mit Warnungen oder Prophezeiungen antworten. Am Ende musste man ihn höflich und voller Demut verabschieden und ihm viele, viele Geschenke mitgeben, bevor er wieder in sein Boot stieg und davonfuhr. Vielleicht würde er dann – sozusagen als Abschiedsgeschenk – auch eine Schutzformel über das gesamte Dorf sprechen.
»V orher muss man ihn
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