Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
der Made den Kopf mit den Fingern ein, so wie es mir Großmutter Antonia beigebracht hatte. Dann stopfte ich mir das ganze Tier in den Mund. Ein leises Knacken des weichen Panzers, dann trat das nach Kokos schmeckende Fett aus. Das Fleisch war zart und wirklich köstlich. Beinahe wie Shrimps in Kokosmilch, nur ein wenig fettiger.
Als wir mit den Engerlingen nach Mashipurimo zurückkamen, waren die Vorbereitungen für das Festessen fast abgeschlossen. Während Jakono inzwischen würdevoll auf seinem Holzbänkchen saß, schleppten die Frauen die ersten Kessel mit delikaten Speisen herbei, die direkt vor dem Gastgeber auf die Erde gestellt wurden. Ein großer Kessel voller Tapirfleisch in Pfeffersud. Ein weiterer Kessel mit Fischsuppe. Das ging so lang, bis ein ganzes Büfett auf dem Boden herum stand. Eine Ansammlung von Töpfen, Schalen, Schüsseln und Matten.
Endlich ließ der Gastgeber zum Essen bitten. Doch anders als hierzulande, wo Pünktlichkeit zum guten Ton gehört, war es bei den Aparai-Wajana ein Gebot der Höflichkeit, den Gastgeber erst einmal warten zu lassen. Mindestens zehn Minuten lang. Als die ersten Gäste nach einem gegenseitigen Begrüßungspalaver mit gehöriger Verspätung eintrudelten, zeigte sich Jakono völlig entspannt. Nacheinander überreichten ihm seine Gäste kleine Mahlzeiten. So wie man hierzulande dem Gastgeber als Dank für die Einladung möglicherweise eine Flasche Wein mitbringt, eine Schachtel Pralinen oder Blumen, bekam Jakono von jedem Gast einen Teller oder eine Schüssel mit sorgfältig arrangierten Speisen überreicht, von denen er eine symbolische Menge kostete, um die Aufmerksamkeiten seiner Gäste gebührend zu würdigen.
»A h, was für köstliche Bohnen, solche guten Bohnen wachsen bei uns gar nicht.«
Oder: »N ein, was für ein schönes Stück Fleisch, so etwas Gutes hast du mir mitgebracht, das ist sehr großzügig von dir.« So in der Art ging das vonstatten. Anschließend wurden die Gastgeschenkshäppchen weitergereicht, bis jeder davon gekostet hatte. Dann begann das eigentliche Essen, das ganze Gelage dauerte bis tief in die Nacht. Solche Festessen habe ich in allerschönster Erinnerung. Wir durften ausnahmsweise so viel in uns hineinstopfen, wie wir wollten. Noch Wochen später zählten wir uns gegenseitig auf, wer was und wie viel verdrückt hatte, wobei die Mengenangaben natürlich immer größer wurden. Zum Schluss hatte Koi einen ganzen Tapir alleine vertilgt. Und hätte es Elefanten im Urwald gegeben, Mikulu hätte eine ganze Herde von ihnen verspeist.
Manche Gäste blieben anschließend noch fast eine Woche in unserem Dorf. Denn Gastfreundschaft wurde unter den Aparai-Wajana groß geschrieben, und so lange genug Essen vorhanden war, gab es keinen Grund, Freunde und Verwandte wieder fortzuschicken.
Hunger im Paradies
So wie auf den Genuss vieler guter Getränke in der Regel ein schwerer Kopf folgt und auf die Zeit der Völlerei vielleicht ein verdorbener Magen, hieß es nach einem Festgelage in Mashipurimo, dass die Gürtel wieder enger gebunden werden mussten.
Für das Festmahl war fast die gesamte Maniokernte verbraucht worden. Tag für Tag kehrten die Frauen mit leichteren Rückenkiepen von den Pflanzungen heim, bis diese eines Tages vollkommen leer blieben. Die Bananenstauden waren ebenfalls abgeerntet. Keine einzige Kokospalme weit und breit, in deren morschem Stamm sich noch Engerlinge finden ließen. Dass auch die Wälder überjagt waren, lag allerdings weniger am Festessen, es entsprach der Jahreszeit. Und Jungtiere zu schießen, war tabu. Jetzt gab es täglich nur noch Fisch. Doch auch hier wurden die Rationen immer mickriger. Anstelle von delikaten Akarai, Harnischwelsen, wanderten nun sogar die ungeliebten Piranhas in die Kessel.
Allmählich wich die ausgelassene Stimmung im Dorf einer seltsamen Melancholie. Wem der Magen knurrt, dem bleibt weniger Energie für Späße. Und während ich sonst kaum durch unser Dorf laufen konnte, ohne von jemandem herbeigewunken zu werden, drehten sich mir auf einmal alle Rücken zu, wenn ich zufällig an einer Essensrunde vorbeikam. Wen man nicht sah, den musste man auch nicht zum Essen einladen. Nur Antonia reagierte beinahe beleidigt, wenn ich ihr in solchen Zeiten nicht zur Last fallen wollte und daher mittags oder nachmittags bei meinen Eltern blieb. Lieber hätte sie gehungert, als mich nicht satt zu bekommen.
Das Verhalten der anderen Familien im Dorf war reiner Selbstschutz. Sie hatten kaum
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