Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
des verstorbenen Häuptlings würde von nun an umgehen. Das Dorf war von ihm gegründet worden, also war es sein Besitz – nach dem Tod noch mehr als im Leben. Meist wurde der Sohn eines verstorbenen Häuptlings zum Nachfolger bestimmt. Ihm oblag es auch, den Platz für das neue Dorf zu suchen.
Erstaunt betrachtete ich den Boden des Polootoppos. Die festgestampfte Erde war von einer feinen Sandschicht bedeckt, nichts deutete darauf hin, dass darunter der verstorbene Häuptling in Hockposition begraben war. Was für ein würdiger Platz. Von hier aus hatte der Geist des Häuptlings den besten Blick auf das Dorf, die Bucht und den Fluss. Die Männer erzählten mir, dass einzig dem Häuptling und dem Zauberer – in alter Zeit waren das ein und dieselbe Person –, die Ehre zuteil wurde, mit Grabbeigaben bestattet zu werden. Manche wurden mit Pfeil und Bogen begraben, andere bekamen kostbare Tontöpfe oder Tierfiguren und Federschmuck mit ins Grab. Damit sie den Weg nach Schipatei mit Würde beschreiten konnten.
Inzwischen waren die Mashipurianer mit geschulterten Bananenstauden von den Pflanzungen zurück. Eine Frau hatte Maniok-Knollen in ihre Rückenkiepe gepackt. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Die Menge reichte, um notfalls alle satt zu bekommen. Grüppchenweise schlenderten wir zum Ufer zurück. Als wir ablegten, durfte ich mich ins Bootsheck setzen. Unter meinen Füßen stapelten sich frisch geerntete Bananen. Sie waren noch etwas unreif, aber durchaus genießbar. Neben den mehligen Kochbananen lagen Schweinebananen. Die waren klein und etwas eckig, dafür umso süßer. Man sieht sie manchmal als exotische Dekoration auf deutschen Büfetts.
Das Geisterdorf entfernte sich langsam aus unserem Blickfeld, als ich plötzlich einen Mann auf dem größten Felsen der Bucht stehen sah. Breitbeinig und mit verschränkten Armen starrte er unverwandt in unsere Richtung. Sein Haar war schulterlang, und sein leuchtend roter Latz reichte beinahe bis zum Boden hinab. Ein Festtagsschurz. Aufgeregt sprang ich auf, um den anderen von meiner Entdeckung zu erzählen. Also doch! Da war jemand gewesen, und ich hatte es die ganze Zeit gespürt. Panisch trommelte ich Araiba auf den Rücken, aber als ich mich wieder umdrehte, um ihm den Mann zu zeigen, war der bereits verschwunden.
Bis heute weiß ich nicht, ob die Erscheinung nur der Phantasie eines kleinen Mädchens geschuldet war, das der Besuch im verlassenen Dorf tief beeindruckt hatte. Die Aparai würden sagen, dass sich der Geist des verstorbenen Häuptlings der reinen Seele eines Kindes gezeigt hatte. Möglicherweise war es aber nur ein ehemaliger Dorfbewohner gewesen, der zurückgekommen war, um nach dem Rechten zu sehen. Der aufpasste, dass wir die verlassenen Gärten nicht plünderten.
Bau eines Unterschlupfes aus Palmwedeln
Auf der Suche nach den Urwaldmenschen
Endlich kam die Regenzeit, und es goss wie aus Kübeln. Schwere Tropfen prasselten auf die dicht gewebten Palmblattdächer der Hütten von Mashipurimo. Unterbrochen von gelegentlichem Donnergrollen in der Ferne, untermalt von metallischem Getrommel, wenn dicke Tropfen auf den umgedrehten Kochtöpfen vor den Hütten landeten. Ping, ping, ping, dong. Ping, ping, ping, dong. Für eine kurze Zeit schien das Leben stillzustehen, alles spielte sich im Bauch der Hütten und nicht wie gewohnt im Freien ab. Sanft murmelnde Frauenstimmen, in Hängematten schaukelnde Kinder, Hunde, die im Halbschlaf knurrten. Draußen klatschte der Regen auf die durchweichte Erde, die aufspritzte wie von Kugeln getroffen. Eine bräunliche Schlammflut bahnte sich ihren Weg den Dorfhang hinab und spülte alles mit sich fort, was eben noch den Boden bedeckt hatte. Sägespäne, Holzkohle, Baumwollflocken, ausgespuckte Fischgräten. Kleine bunte Vogelfedern tänzelten auf der Oberfläche, bevor sie in der trüben Masse versanken. Alles wurde in den Fluss gespült, zurück blieb ein blitzblanker Dorfplatz.
Wer sich ins Freie wagte, kam in den Genuss einer voll aufgedrehten Himmelsdusche. Erst als sich die Wolken leer geregnet hatten, riss der Himmel wieder auf, um die Sonne für den Rest des Tages freizugeben.
Mashipurimo wurde in ein nass glänzendes Licht getaucht. Der festgestampfte Boden war mit Pfützen übersät, in die man herrlich hineinspringen konnte. Am schönsten jedoch waren die Seen, die vorübergehend im Urwald entstanden. In den Nasswiesen spiegelte sich die überbordende Vegetation. Alles wuchs und wucherte.
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