Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Unaufhörlich. Ein Labyrinth aus glitzernden Blättern, Lianen, Luftwurzeln und mehreren Stockwerken von Büschen und Baumkronen, dazwischen prachtvollste Orchideen, wie Blumen von einem anderen Planeten. In den Spinnennetzen schimmerten die Regentropfen wie silberne Perlen. Käfer kamen aus ihren Verstecken gekrochen, Schlangen, Eidechsen und sonstiges Getier. Was nicht schwimmen konnte, musste sich schleunigst in Sicherheit bringen. Selbst gewöhnliche Ameisen stellten sich auf die Bedingungen der Regenzeit ein, indem sie sich zu Tausenden ineinanderhakten und mit ihren Körpern lebendige Flöße bauten, die wie kleine Inseln auf der Wasseroberfläche trieben.
Der Regenwald war ein unbeschreibliches Paradies, ein einzigartiges Biotop – bis die Menschen im vergangenen Jahrhundert mit seiner Zerstörung begannen.
Da sich während der Regenzeit selbst kleine Waldbäche in reißende Gewässer verwandelten, stieg auch der Pegel im Rio Paru bedrohlich an. Von den mächtigen Kugelfelsen im Flussbett ragten allenfalls noch die steinernen Rücken aus dem Wasser. Unser schöner Badefluss war zu einem mächtigen Strom angeschwollen, um den wir eine Zeit lang einen Bogen machen mussten. Während der Regenzeit badeten wir in einer kleineren Ersatzbucht, die am anderen Ende des Dorfes lag. Nur unweit von den Hütten meiner Eltern entfernt. Normalerweise lebten wir am äußersten Rand von Mashipurimo, doch in diesen Wochen rückte unser Domizil vorübergehend in den Mittelpunkt des Geschehens. Die kleine Badebucht war durch ein kurzes Stück Dickicht von unserem Haus getrennt. Wer sich den Weg durch Sträucher und stacheliges Gebüsch gebahnt hatte, wurde anschließend mit einem herrlichen Anblick belohnt. Eine ausladende Bucht, umrahmt von einem weitläufigen Puderstrand.
Eines Tages badeten und planschten wir übermütig in der Bucht, ein paar ältere Frauen suchten im Ufergestrüpp nach Schnecken. Die Landschaft umfing uns mit ihrem Zauber. Alles war frisch, dampfend, ein sattes, immergrünes Nass. Irgendwo schrie pausenlos ein Vogel, den man so laut nur während der Regenzeit hörte. Auf dem Rücken liegend ließ ich mich im Wasser treiben und hing meinen Gedanken nach. Wieder das Kreischen des Vogels. Mit den Ohren unter Wasser wurde es stiller. Nur das immerwährende Klicken der winzigen Kieselsteine, die gegen die größeren Felsen gespült wurden, war zu hören. Ich streckte meine Hand aus, um mich an einer Wurzel festzuhalten, damit mich die Strömung nicht fortzog.
Plötzlich sprudelte es neben mir. Erschrocken wirbelte ich herum, konnte aber nichts erkennen. Gerade als ich mich wieder zurücksinken lassen wollte, bemerkte ich, dass die Frauen, die eben noch in meiner Nähe gebadet hatten, hektisch ans Ufer stürzten und durch das Unterholz zurück Richtung Dorf. Koi und Tanshi eilten hinterher, ohne sich ein einziges Mal nach mir umzudrehen. Ich sah noch kurz ihre nackten Popos in der Sonne aufblitzen, dann waren auch sie verschwunden. Warum rannten denn alle so schnell weg? Ein Jaguar? Erst jetzt entdeckte ich eine der alten Frauen auf einem erhöhten Felsen. »I tuakeré, Ituakeré!«, rief sie aus Leibeskräften. Ich erstarrte. Warum hatte ich ihre Warnrufe nicht früher gehört?
Ich war zu weit vom Ufer entfernt. Panisch watete ich durchs Wasser. Es fühlte sich an, als hätte ich Blei an den Beinen. Mehrmals rutschte ich aus und geriet unter Wasser. Hustend und fluchend richtete ich mich wieder auf. Als ich mich umblickte, waren alle fort. Totenstille. Warum half mir denn keiner? Meine Gedanken rasten. Gleich, gleich würden mich die Ituakeré fangen. Das Blut schoss mir in den Kopf, und mein Herz hämmerte so laut, dass ich meinte, das Pochen würde von den Felsen wie ein Echo zurückgeworfen. Meine Augen wanderten zu meinen roten Flipflops am Strand. Die schönen Schlappen durften auf gar keinen Fall zurückbleiben. Wie töricht, im Zweifelsfall sein Leben für ein paar Badesandalen zu riskieren! Und doch waren sie das Einzige, worauf ich mich in diesem Augenblick konzentrieren konnte.
Wieder erklang der Ruf »I tuaaakeréeee!« Eine Warnung, diesmal für die anderen im Dorf. Ein Ruf, der aber auch den Ituakeré galt: Wir wissen, dass ihr da seid. Gebt Acht, gleich kommen unsere Männer, um euch zu vertreiben.
Doch weit und breit war kein einziger Aparai-Krieger zu sehen. Und die Ruferin war viel zu weit entfernt, als dass sie mir helfen konnte. Sie schien mich nicht einmal bemerkt zu haben. Ich sah,
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