Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
beobachtet hatten, ohne dass wir sie bemerkt hatten. Unsere Männer stellten nüchtern fest, dass wir die Anwesenheit der Ituakeré schlichtweg verschlafen hatten. Also waren die Waldmenschen aus meinem Traum vielleicht doch keine Schattengestalten gewesen?
Etwas betrübt, aber auch erleichtert, packten wir unsere Habseligkeiten wieder zusammen. Die Frauen hüllten ihre Stecklinge in feuchte Tücher ein, die Männer schulterten das Gepäck. In ein paar Tagen würde man nicht mehr erkennen, dass wir an dieser Stelle campiert hatten. Immerhin kehrten wir mit der Gewissheit nach Mashipurimo zurück, dass die Ituakeré uns gegenüber keine feindlichen Absichten hegten. Sie wünschten bloß keinen Kontakt. Eine Erkenntnis, mit der sich gut leben ließ.
Stecklinge wie diese nahmen die Frauen für die Ituakeré mit
Fast zwei Jahrzehnte später stehe ich völlig unerwartet einem leibhaftigen Ituakeré gegenüber. Er ist ein bisschen jünger, doch beinahe so groß wie ich, recht ungewöhnlich für einen Amazonas-Ureinwohner. Seine Augen wirken fremdartig, irgendwie katzenhaft, sein Blick ist voller Melancholie. Über den Augen wölbt sich ein ausgeprägter Wulst, er hat hohe Wangenknochen und einen eher olivfarbenen Teint, dabei deutlich heller als der dunkelrotbraune Hautton der Aparai. Von seiner ganzen Statur her ist der Waldmensch ein wenig breiter, kräftiger und muskulöser als die Männer der Karibenvölker Amazoniens. Trotz seiner beachtlichen Größe hängen seine starken Arme beinahe hilflos herab. Wie bei einem Kind, dem nicht ganz wohl in seiner Haut ist.
Entgeistert starre ich den jungen Mann an. Mein Blick wandert zu seinen Füßen, die wirklich groß sind, vor allem breit. Der Ituakeré trägt Boxershorts. Gefasst lässt er meine Musterung über sich ergehen. Ich ringe um eine angemessene Begrüßung, doch kein passendes Wort will mir über die Lippen kommen, obwohl mir klar ist, wie unhöflich das ist. Belustigt stehen einige Aparai um uns herum. Neugierig, was als Nächstes geschehen wird. Unsere Begegnung findet nicht etwa im tiefen Urwald statt, sondern in der Nähe von Bona, jenem Dorf am Rio Paru, das inzwischen sogar mit einer eigenen Stromleitung versehen ist.
»E mä mä manko«, höre ich mich sagen, was so viel heißt wie: Ich bin traurig. Sofort beiße ich mir auf die Zunge. Eigentlich hatte ich sagen wollen: »T an kü ä assä« – »I ch bin glücklich« (dich kennenzulernen). Was für ein Freud’scher Versprecher. Wie hatte ich das nur durcheinander bringen können? Während ich etwas hilflos versuche, mich wegen meiner inzwischen mangelhaften Sprachkenntnisse zu entschuldigen, geht der Ituakeré höflich über meinen Versprecher hinweg. »I ch weiß, wer du bist. Du bist Katarischi. Unsere Leute haben dich gesehen, als du noch ganz klein warst.« Noch entgeisterter als zuvor starre ich den Waldmenschen an. Da war er wieder, mein seltsamer Traum, der vielleicht doch keiner gewesen ist.
Im Laufe unseres Gesprächs erfahre ich, dass dieser junge Mann wohl der letzte Überlebende seines Volkes ist. Fassungslos und ohnmächtig erfahre ich, was mit den wenigen unkontaktierten Urvölkern geschieht. Im Namen der Zivilisation setzen sich Kirchen und Sekten über die offiziell verbotene Zwangsmissionierung und über Quarantänezeiten hinweg. Wer Menschen um jeden Preis bekehren will, selbst solche, die keinen Kontakt wünschen, findet heute Mittel und Wege, dies dennoch zu tun. Leichtflugzeuge, die beinahe überall landen können, und Infrarotsichtgeräte, die beim Aufspüren dieser Völker helfen, sind keine Seltenheit mehr. Die Missionare kommen in guter Absicht, beseelt von dem Gedanken, das »W ort Gottes« auch noch unter die letzten »H eiden« auf unserer Erde zu bringen.
Als ich den Ituakeré einige Tage darauf noch einmal besuchen will, ist er gerade in der »K irche«, einem scheunengroßen Bretterverschlag. Beim Beten.
Tanshi und ich trinken Palmbeerensaft vor unserem Küchenhaus
Abschied vom Amazonas
Es war ein Schock, als mir meine Eltern eines Tages sagten, dass wir zurück nach Deutschland müssten. In das Land, in dem ich geboren worden war, an das ich aber keinerlei Erinnerungen hatte. Den Grund für unseren Weggang konnte ich mir nicht erklären. Bot uns Mashipurimo denn nicht alles, was wir brauchten? Unser Zuhause im Urwald war der schönste Ort der Welt für mich. Die Bedrohungen, die so ein Leben möglicherweise mit sich brachte, waren mir als Kind
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