Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Kreischen, Brüllen, Zirpen – alles durcheinander. Irgendwann hoben auch die Affen zu ihrem Konzert an. Iiiiiihhh Iiiihhh, iiiihhhh. Raaahhh, raaahh, rahhh, rahhh. Bei dem Krach sollten wir schlafen? In Mashipurimo war es nicht so laut.
Die Männer machten sich flink und konzentriert an die Arbeit, um unser Nachtlager zu errichten. Zunächst wurde ein ordentliches Lagerfeuer entfacht, für das die Frauen unaufhörlich Zweige und Rindenstücke heranschleppten. Ungefähr die doppelte Menge an Holz wie beim Abendfeuer im Dorf. Anschließend wurden alle Hängematten im Kreis um das Feuer an die Bäume geknüpft. Unser Camp, in dessen Mitte ein wärmendes Feuer flackerte, sah richtig gemütlich aus. Meine Schlafstätte war auf allen Seiten eingerahmt von den Hängematten der Erwachsenen. Ein beruhigendes Gefühl. Kein Ituakeré würde sich trauen, mich aus dieser schützenden Runde heraus zu rauben.
Knisternd und prasselnd tauchten die hellen Lichtreflexe unseres Feuers das Geäst der umstehenden Bäume in ein rotgoldenes Licht. Merkwürdige Schatten huschten zwischen den Zweigen umher. Ich musste an Antonias Erzählungen von den Baumgeistern denken, die zurückgezogen im tiefsten Urwald lebten. Ob sie sich über unseren Besuch freuten? Oder waren sie verärgert, weil wir ihre Ruhe störten? Unsicher ließ ich meinen Blick über unser Lager schweifen. Die Flammen des Feuers schlugen immer wieder so hoch, dass es den Anschein hatte, als würden sie auf unsere Hängematten überspringen. Doch das Feuer war unser wirksamster Schutz vor wilden Tieren. Schließlich befanden wir uns im Reich des Jaguars.
Von Araiba wusste ich, dass sich ein Jaguar niemals in die Nähe lodernder Flammen wagte. Hier waren wir also sicher. Dass die stolze Raubkatze heute vor den Menschen geschützt werden muss und nicht umgekehrt, hätte ich als Kind nie für möglich gehalten. Der Jaguar war für uns einfach allmächtig. Ich erinnere mich noch daran, dass ich einmal mit Koi und Mikulu ehrfürchtig den Jaguargürtel von Kulapalewa betrachtete. Ein heiliger Gürtel aus dem Fell eines heiligen Tieres. Mit den Fingern fuhren wir über das weiche, auffällig gemusterte Fell, dessentwegen das Tier so unerbittlich gejagt wurde, weil in Europa und Amerika Jaguarpelze en vogue waren. Bei den Aparai durften die Raubkatzen nur aus Notwehr oder in ganz besonderen Ausnahmefällen getötet werden. Ursprünglich war ihr Fell nur den mächtigen Zauberern und Häuptlingen vorbehalten gewesen. Und eine Kette aus Jaguarzähnen war in etwa so wertvoll wie hierzulande ein Diamantcollier.
Nicht weit von unserem Nachtlager entfernt, errichteten die Männer einen langen Tisch. Eine etwas wacklige Konstruktion, auf die Geschenke für die Waldmenschen ausgelegt wurden. Perlenketten, fein geflochtene Schmuckkämme mit bunten Vogelfedern verziert, Tontöpfe mit traditionellen Aparai-Mustern und schließlich noch blank gescheuerte Aluminiumkessel – als Zeichen dafür, dass wir in allerbester Absicht kamen. Über dem Gabentisch hing ein Gestell aus Astgabeln. Darin platzierte mein Vater weitere Geschenke; funkelnde Messer, eine Taschenlampe, Angelhaken; Dinge, die man im Urwald gut gebrauchen konnte und die sich unter den Aparai, Wajana und Tirio großer Beliebtheit erfreuten.
Danach kehrten alle ins Lager zurück und rollten sich in die Hängematten, bereit, sofort zu reagieren, falls etwas passierte. Ich lag noch eine Weile wach: ein tiefdunkler Zauberwald und ich mittendrin. Irgendwann fielen mir die Augen zu. Ich sank tiefer und tiefer in meine Hängematte, von Halbschlaf konnte keine Rede mehr sein. Natürlich träumte ich von den Waldmenschen. Davon, dass die Ituakeré während der Nacht direkt bis an unser Lager kamen. Lautlos. Neugierig streiften sie um unsere Schlafstätte herum. Ich träumte, dass sie näher und näher an unsere Hängematten kamen, um unsere schlafenden Gesichter zu betrachten. Fast konnte ich ihren Atem spüren. Ihre Haut roch ungewohnt streng. Als ich mich im Traum in der Hängematte umdrehte, sprangen sie erschrocken zurück und liefen in alle Richtungen davon. Die Ituakeré hatten offenbar mehr Angst vor uns als wir vor ihnen.
Jagd auf das heilige Tier der Aparai
Spät in der Nacht erklang plötzlich ein ohrenbetäubender, grauenhafter Schrei. Erschrocken fuhr ich hoch. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich die Orientierung verloren. Ich sah, wie die Hängematten vor und hinter mir eilig verlassen wurden. Dunkel erinnerte
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