Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
mir alles genau ansehen – und dann nach Mashipurimo zurückkommen. Notfalls ohne meine Eltern. Denn ein Leben ohne Antonia, ohne meine Wahlfamilie und meine vielen Freunde im Dorf konnte ich mir nicht vorstellen.
Unterdessen war meine Mutter damit beschäftigt, unseren Haushalt aufzulösen. Die meisten unserer Habseligkeiten verschenkte sie. Töpfe, Angelhaken, Medikamente, Planen – alles, was man im Urwald gut gebrauchen konnte. Und obwohl die Aparai sich normalerweise über solche Dinge aus der Zivilisation freuten und manchmal sogar regelrecht darum bettelten, zierten sich die Beschenkten plötzlich in ungewohnter Manier. Niemand wollte mit Freude etwas annehmen, weil das bedeutete, dass wir wohl nicht mehr zurückkämen. Keiner wollte mein bonbonfarbenes Kindergeschirr aus Plastik haben, nicht einmal Koi. Alle versicherten mir, dass ich es später noch benötigen würde, wenn ich wieder in Mashipurimo lebte. Am Ende packte mein Vater die bunten Teller in eine »S chatzkiste«, die wir am Dorfrand feierlich unter einem Riesenfarn vergruben. Das Geschirr ruht seitdem in einer Aluminiumkiste in der rotbraunen Erde Amazoniens. Verborgen unter Gestrüpp und den darüberwachsenden Wurzeln der Baumriesen, in denen die regenbogenfarbenen Aras ihre Kreischkonzerte geben. In einem Dorf, das inzwischen verlassen ist und dessen Spuren für ungeübte Augen kaum noch zu erkennen sind. Das heutige Mashipurimo ist deutlich kleiner und liegt auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses. Gelegentlich werden die alten Plantagengärten noch abgeerntet, ansonsten verharrt das Dorf meiner Kindheit im Dämmerschlaf.
In Gedanken nahm ich mir vor, die Kiste eines Tages wieder auszugraben. Eine ganze Weile stand ich damals noch vor dem sorgfältig zugeschaufelten Erdloch, um mir den Ort genau einzuprägen – die Entfernung zum Fluss, die Form des Riesenfarns, der sich wie ein Regenschirm über mich spannte. Wer weiß, vielleicht finden in ein paar Jahrhunderten Archäologen eine Kiste mit bunten Kunststofftellern am Ufer des Rio Paru …
Nachdem ich mich von meiner Schatzkiste verabschiedet hatte, marschierte ich zu Antonia und erklärte ihr, dass ich so schnell wie möglich zurückkommen würde. Mit zusammengepressten Lippen schüttelte sie den Kopf und sah mich mit ernsten Augen an. Auch in den folgenden Tagen war sie so beängstigend still, dass sich Araiba zu sorgen begann: »B ist du krank?« Antonias Traurigkeit schnürte mir die Kehle zu. Nichts vermochte ein Lächeln in ihr versteinertes Gesicht zu zaubern. »D u wirst wiederkommen, Katarischi, aber nicht so bald, wie du meinst«, sagte sie, nachdem ich ihr zum wiederholten Mal versichert hatte, dass ich nur kurz wegbleiben würde. Antonia nahm meinen Kopf zwischen ihre rauen Handflächen, sah mir tief in die Augen und sagte, dass sie eine sehr alte Frau sein würde, wenn ich eines Tages wiederkäme. Ich schluckte, um nicht loszuheulen.
Unter jedem noch so kleinen Vorwand kam Antonia in jenen Tagen zu uns in die Hütte, um etwas zu »b esprechen«. Sie zitierte mich zu sich, damit sie für einen neuen Lendenschurz aus Perlen Maß nehmen konnte. Mein Abschiedsgeschenk. Auch Tante Malina strich immer wieder um unsere Hütte herum, während sich Araiba nach der Ankündigung unserer bevorstehenden Abreise tagelang zurückzog. Er fuhr ans gegenüberliegende Flussufer, um Schilf zu schneiden. Mit der Überreichung der Körbe mit ihren kunstvollen schwarzen Mustern und den mythischen Tierfiguren wartete er bis zum letzten Moment. Als wir mit unserem Boot gerade vom Ufer ablegen wollten, überraschte er uns mit diesem wunderbaren Geschenk. Für meine Mutter hatte er ein besonders schönes Potö angefertigt, einen Korb mit Deckel, dessen Boden eckig war, der obere Rand hingegen kreisförmig. Das Kunstwerk erhielt später einen Ehrenplatz in unserer Wohnung, meine Mutter bewahrte ihr Handarbeitszeug darin auf.
Am Tag unseres Aufbruchs verabschiedeten wir uns von unseren Wahlverwandten so, als würden wir nur einen kurzen Ausflug machen. Rührselige Umarmungen gab es bei den Aparai nicht, und niemand wusste so recht, wie man sich der Situation angemessen verhielt. Wie sagt man schon richtig auf Wiedersehen, wenn es unter Umständen kein Wiedersehen geben würde?
Auch Koi, Tanshi, Sylvia und Mikulu hatten uns nach Aldeia Bona zur Flugpiste begleitet. Ich krabbelte auf den Rücksitz der Propellermaschine und blickte aus den zerkratzten Fensterscheiben, gegen die von außen
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