Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
jedenfalls nicht präsent. Die Gemeinschaft der Aparai-Wajana umgab mich wie ein schützender Mantel. Und die Natur versorgte uns mit allem, was wir für ein gutes Leben brauchten. Mit frischem Wasser, Fisch, Wild, Obst und Nüssen, mit Holz, Palmwedeln und Lianen. Was konnte es in Deutschland geben, das wir hier nicht längst hatten?
Mein Vater deutete an, dass sich die Lage im Land unter der Militärdiktatur verändert hatte. Ich verstand nicht genau, worum es ging, ich begriff nur, dass wir in Brasilien nicht mehr sicher waren. Nicht einmal im Regenwald.
In den kommenden Wochen erfuhr ich von meinen Eltern nach und nach Einzelheiten über das Leben in diesem fernen Land. Dass es dort vier Jahreszeiten gab und nicht zwei wie im Urwald. Sie schilderten mir, dass die Bäume im Herbst ihre bunten Blätter verloren und dass es im Winter so kalt werden konnte, dass das Wasser in den Seen manchmal gefror. Mit etwas Glück konnte man sogar auf dem Eis laufen. Ich hörte, dass die Häuser in Deutschland aus Stein oder Beton waren, dass die Menschen dort nicht in Booten über Wasserwege, sondern mit Autos über Straßen fuhren. Autos kannte ich bereits aus Belém, doch darauf, was mich im Land des Automobils erwarten sollte, war ich natürlich nicht vorbereitet. Meine Eltern erzählten mir, dass die Kinder in Deutschland zur Schule gingen, wo sie Lesen, Schreiben und Rechnen lernten. Bislang war der Urwald meine Schule gewesen. Ich wusste, wie man sich annähernd lautlos bewegte. Wie man die Augen für all die verschiedenen Grün-Schattierungen schärfte, hinter denen sich im Urwald manches Geheimnis verbarg. Vögel, Insekten und Schlangen, die sich tarnten und kaum von ihrer Umgebung abhoben. Wie jedes Aparai-Kind konnte ich beim Sammeln von Beeren und Wurzeln die meisten nützlichen Pflanzen von den giftigen unterscheiden. Selbst auf Palmen konnte ich halbwegs gut klettern, auch wenn ich dafür noch eine Fußschlinge aus robusten Agavenfasern benötigte. Ob ich damit in Deutschland noch etwas anfangen konnte?
Die Dimensionen unseres Weggangs konnte ich damals nicht erfassen. Bei aller Traurigkeit war ich natürlich auch neugierig auf die Reise in meine fremde Heimat. Von meinen Erlebnissen dort würde ich später meinen Freunden in Mashipurimo erzählen. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass wir nach einigen Wochen oder Monaten wieder in den Urwald zurückkehren würden. Wahrscheinlich würde diese Fahrt nicht viel anders sein als unsere Besuche in der brasilianischen Hafenstadt Belém: Diese Ausflüge hatte ich stets genossen – und noch bevor ich Heimweh nach Mashipurimo bekommen konnte, waren wir schon wieder zurück im Regenwald. Ein Aparai hält es ohne seine Gemeinschaft nicht sehr lange aus. Er wird traurig, melancholisch und verliert den Appetit. Dass es mir einmal genauso ergehen würde, ahnte ich damals freilich nicht.
Das Gezeter, das Großmutter Antonia anstimmte, nachdem sie von unserer Abreise erfahren hatte, klang mir noch lange in den Ohren. Sie argumentierte, verhandelte und flehte meinen Vater an, mich bei ihr in Mashipurimo zu lassen. Sie würde immer gut auf mich aufpassen, mir sollte es an nichts fehlen, darauf könnten sich meine Eltern verlassen. Doch all ihr Bemühen war vergebens. Als Antonia begriff, dass es sehr, sehr lange dauern würde, bis wir uns wiedersähen – wenn überhaupt –, wurde sie auf einmal ganz still. Sie war niedergeschlagen, weil man mich von ihr trennte, und überzeugt davon, dass ich nach Mashipurimo gehörte und nicht in jenes weit entfernte Land namens Deutschland. Sie sorgte sich, dass ich dort nicht glücklich werden und mir das Essen nicht schmecken würde. Womit sie Recht behalten sollte. In meinen ersten Jahren in Deutschland war die Umstellung auf europäische Kost tatsächlich eine Tortur für mich. Lieber hätte ich freiwillig Abertausende gerösteter Ameisen gegessen als Brokkoli, Kohlrabi, Blumenkohl oder grausigen Rosenkohl. Noch heute wird mir beim Geruch von gekochtem Kohl übel.
In den letzten Wochen vor unserer Abreise schien es, als habe sich ein Schatten über das Dorf gelegt, der jede Unbefangenheit verschluckte. Die Wortgeplänkel beim Essen gerieten ins Stocken, unser Gejohle beim Baden erstarb. Nicht einmal Araiba brachte noch einen Witz über die Lippen. Abend für Abend grübelte ich vor dem Einschlafen, ob es nicht vielleicht doch eine Möglichkeit gäbe, meinen Aufenthalt in Deutschland zu verkürzen. Ich wollte dieses Land besuchen und
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