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Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Titel: Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherina Rust
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ich mich daran, dass ich schon einmal zuvor ein ähnliches Geräusch gehört hatte. Allerdings aus großer Entfernung, und es war mehr ein dumpfes Knurren gewesen als ein Schrei. Diesmal klang es bedrohlich nah.
    Vorsichtig spähte ich aus meiner Hängematte. Ein Frosch hatte sich in meinem Moskitonetz verfangen und ruderte unbeholfen mit den Beinen. Ich schnippte ihn auf den Boden, als erneut ein Schrei durch die Nacht hallte und ich kaum noch zu atmen wagte. Ein wütender, tiefdunkler Raubtierschrei. Noch lauter als zuvor. Unbeherrscht. Außer sich, dass wir uns in sein Revier gewagt hatten. Hier war der Jaguar der unbestrittene Herrscher des Urwalds. Und wir waren nur lächerlich kleine Menschenkinder, die in seinem Territorium nichts verloren hatten.
    Meine Eltern riefen beruhigende Worte in meine Richtung. »E r kommt nicht ans Feuer. Keine Bange. Alles ist gut. Der Jaguar ist ganz weit weg.« Zwei Männer hatten unterdessen ihre Gewehre geschnappt, die anderen ihre Pfeile und Bogen. Falls doch etwas Unvorhergesehenes passierte, sollte ich mich direkt mit dem Rücken vor das Feuer stellen. Doch einstweilen wurde mir bedeutet, mich nicht vom Fleck zu rühren und in der Hängematte zu bleiben.
    In meinen Ohren hallte der Schrei des Jaguars noch lange nach, er verfolgte mich bis in den Traum. Dort wurde er leiser und leiser, bis er nicht mehr zu hören war.
    In der kommenden Nacht währte der Schlaf ebenso kurz. Diesmal waren die Rufe meines Vaters schuld. Er und zwei Begleiter hielten abwechselnd Wache auf einem Posten, nicht weit von unserem Schlaflager entfernt. »I tuakeré! Ituakeré!«, riefen sie. Diesmal im Ton versöhnlich und nicht warnend wie an jenem Tag in der Bucht. Ein Ruf wie nach einem verloren gegangenen Kind, in der Hoffnung, es möge den Weg nach Hause finden.
    »I tuakeré, Ituakeré! Kommt zu uns, wir tun euch nichts. Wir suchen eure Freundschaft.«
    Mir war die Sache trotzdem unheimlich. Was, wenn die Ituakeré dieser Einladung tatsächlich folgten? Wie sollten wir uns ihnen gegenüber verhalten? Würden sie uns verstehen? Oder würden sie uns mit ihren Keulen und Speeren bedrohen?
    Die meisten von uns hofften darauf, dass die Waldmenschen wenigstens zu unserem Gabentisch kämen. Falls sie unsere Geschenke mitnähmen, wünschten sie Kontakt. Zerstörten sie den Gabentisch, bedeutete das: Haltet euch fern! Wir betrachten euch als Feinde. Über eine dritte Möglichkeit hatten wir gar nicht erst nachgedacht.
    Nach einer gefühlten Ewigkeit, dabei waren es nur ein paar Tage gewesen, brachen wir unverrichteter Dinge wieder auf. Sehr zum Verdruss meines Vaters, der seit Jahren einer Begegnung mit diesem geheimnisvollen und isoliert lebenden Volk entgegengefiebert hatte. Er begeisterte sich für die Vorstellung, dass es noch Menschen auf der Erde gab, die beinahe so lebten wie in den ersten Tagen der Menschheit. Durch sie könnten wir mehr über unseren eigenen Ursprung erfahren. Eine für meinen Vater einmalige Gelegenheit war ungenutzt verstrichen. Und dennoch war diese Expedition in den Urwald nicht ganz umsonst gewesen.
    Auf unserem Gabentisch fehlte zwar kein einziger Gegenstand. Auch waren die verlockenden Sachen offenbar nicht einmal berührt worden, alles stand noch unverändert an seinem Platz.
    Doch als sich die Männer daranmachten, die Gaben wieder einzupacken, entdeckten sie etwas, das ihnen die Sprache verschlug. Unzählige Fußabdrücke um den Tisch herum zeugten davon, dass doch jemand da gewesen war. Unsere Männer hatten den Boden zuvor nämlich gründlich eingeweicht, in der Hoffnung, anschließend Spuren darin zu finden. Und tatsächlich schien es, als seien die Waldmenschen mehrfach um den Gabentisch herumgelaufen. Von dort führten ihre Spuren in allen Himmelsrichtungen zurück in den Urwald, wo sie sich schon nach wenigen Metern verloren. Mein Vater nahm ein paar Messungen an den Abdrücken vor und stellte fest, dass die Füße der Ituakeré sehr viel größer und breiter waren als die der Aparai. So riesige Füße hatte sonst keiner am Amazonas, nicht einmal mein Vater. An die fünf unterschiedliche Fußabdrücke konnten die Männer ausmachen, die bestätigten, dass die dazugehörigen Sohlen von einer sehr dicken Hornhaut überzogen sein mussten. Bei einem anderen Abdruck fehlte sogar ein Zeh. Für Forschungszwecke war diese »A usbeute« sicher unbefriedigend. Faszinierend für uns alle war hingegen, dass die Waldmenschen uns offenbar während unserer gesamten Expedition

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