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Das Maedchengrab

Das Maedchengrab

Titel: Das Maedchengrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadja Quint
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sich im Stuhl zurück und überlegte. Nach einer Weile fragte sie: »Bei allem, was Ihr erzählt: Bedeutet das, die beiden verstanden sich nicht gut, unser Vater und unser Onkel Tonnes?«
    Marjann seufzte. »Das weiß ich nicht, und ich will dir nichts Falsches sagen. Als Brüder hatten sie wohl oft verschiedene Ansichten. Aber damals waren sie noch jung. Dreizehn Jahre sind seitdem vergangen, und Menschen ändern sich. Heute ist euer Onkel sicherlich ein gereifter und besonnener Mann.«
    Diese letzte Bemerkung enthielt eine verdeckte Botschaft über den Onkel. Offenbar wollte Marjann nicht deutlicher werden, doch Fine hatte längst aufgenommen, was die alte Frau ihr zu verstehen gab. Also fragte sie nicht nach, sondern trank den Becher aus und legte sich schlafen.
    Die kommenden Tage vergingen für Fine qualvoll langsam. Immer wieder musste sie daran denken, was der Besuch des Onkels wohl bringen mochte. Doch verstand sie, dass es keinen Sinn hatte, darüber zu grübeln. Die Geschwister mussten seine Ankunft abwarten, erst dann würden sie Gewissheit haben.
    Zum Glück brauchten sie nicht länger zu warten, als Onkel Tonnes es angekündigt hatte: Eine Woche nach Eintreffen des Briefes ließ der Vormund die Kinder zu sich in sein Arbeitszimmer kommen, wo sie ihren Ohm begrüßen konnten. Ihr Vater hatte manchmal erzählt, wie gleich die Gesichtszüge von ihm und seinem Bruder waren und dass auch eine große Familienähnlichkeit zu Fine und Basti bestand. Schon deswegen waren sie begierig, ihn zu treffen.
    Als sie das Kontor betraten, erkannten sie den Onkel gleich, denn tatsächlich sah er ihrem Vater ähnlich. Allerdings war er etwas kleiner und hatte einen dickeren Leib, um den sich eine dunkelbraune Leinenhose spannte. Darüber trug er eine wollweiße, ebenfalls aus Leinen gewebte Joppe zu einer seidenen Weste in der gleichen Farbe. Eine breite, goldene Kette mündete in die Westentasche und ließ keinen Zweifel an dem hohen Wert der Uhr, die daran hing. Die Bekleidung schien einerseits zu leicht für die Temperatur, andererseits bei Weitem zu elegant für einen Besuch in dem bescheidenen Eifeldorf.
    Sein Haar musste früher wohl einmal blond gewesen sein, also heller als das seines jüngeren Bruders. Jetzt war es grau geworden, doch im Schein der Kontorlampe wirkte es eher gelblich, vermutlich war es ausgeblichen. Denn so viel wusste Fine schon: Der Ohm lebte weit im Süden der Vereinigten Staaten, wo die Sonne brannte. Dies erkannte man auch an seinem gebräunten Gesicht.
    »Seid mir gegrüßt, Kinder«, die Stimme des Onkels klang auf fremdartige Weise rau und trocken. Und er sprach die Worte so aus, dass man merkte: Dies war nicht mehr seine Heimatsprache. »Es wird Zeit, einander kennenzulernen.« Beide Hände streckte er ihnen entgegen. »Komm her, Johanna. Und auch du, Sebastian.«
    Auf Anhieb spürte Fine, dass sie diesen fremden Mann nicht mochte. Sie beschloss, höflich zu sein, so wie es ein guter Umgang eben erforderte – aber mit einem falschen Namen angeredet zu werden, das wollte sie sich nicht gefallen lassen.
    »Ich heiße nicht Johanna. Ich heiße Josefine«, entgegnete sie mit klarer Stimme und schlug nur zaghaft in die dargebotene Hand des Onkels ein.
    Doch er entschuldige sich nicht für seinen Irrtum, sondern griff mit hartem Druck ihre Finger. »Wie dem auch sei«, meinte er leichthin. »Jedenfalls bist du meine Nichte. Und es freut mich, dass du endlich vor mir stehst.«
    In Fine stieg heißer Ärger auf, den sie unterdrückte, denn sie wollte die Begegnung nicht verderben. Darum schlug sie einen durchaus freundlichen Ton an, als sie sagte: »Wenn Ihr Euch so freut, dann solltet Ihr doch meinen richtigen Namen wissen.«
    Aber die höflich gewahrte Form konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die beiden Männer Fines Verhalten für ungehörig hielten.
    Sofort herrschte der Oberlandbauer sie an: »Du bist ein vorlautes Kind, gleich entschuldigst du dich bei deinem Onkel für deine Unart.« Er wandte sich an den Gast. »Deine Nichte ist kein unebenes Kind, Tonnes. Aber ihre Gedanken sind oft ungewöhnlich. Manchmal glaube ich, die Schwarze Marjann hat dem Kinde zu viel Wunderliches in den Kopf gesetzt.«
    Der Onkel nickte und höhnte: »Ach ja, Marjann, die alte Eigenbrötlerin. Sie treibt also immer noch ihre seltsamen Bräuche. Kein Wunder, Kind, wenn sie dich verzogen hat. Aber merke dir, für vorlaute Weibsbilder gibt es einen Satz, der sich noch immer bewahrheitet hat: Wenn eine

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