Das Maedchengrab
der Onkel mit Basti auf zur Postkutsche nach Köln, von wo es weitergehen sollte den Rhein hinab und später die Weser entlang bis Bremerhaven.
Die Geschwister fielen sich um den Hals und beklagten unter Tränen ihre Trennung, blieben aber beide bei der Entscheidung. Sie beschworen ein nicht allzu fernes Wiedersehen. Und dennoch: Als Fine ihrem Bruder nachwinkte, brach es ihr fast das Herz.
Die Dorfbewohner aber begegneten Fine mit gemischten Gefühlen. Einige meinten, sie habe recht getan, in der Heimat zu bleiben. Andere verspotteten sie, dass sie ihr Glück so mit den Füßen gestoßen hätte, besonders der Ravenzacher, der mit Bastis Abreise nun einen billigen Hausknecht verloren hatte.
»Du hättest mitgehen sollen, Mädchen«, rief er ihr zu. »Eine solche Gelegenheit einfach auszuschlagen – das ist die reinste Dummheit.«
Doch Fine entgegnete: »Ob es dumm ist oder nicht, das kann ich wohl nur an meiner eigenen Zufriedenheit messen. Im Übrigen: Wenn ich es mir anders überlegen sollte, kann ich jederzeit nachreisen. Das steht mir weiterhin offen.«
Da schwieg der Ravenzacher, denn diese Möglichkeit war ihm selbst noch nicht in den Sinn gekommen.
Mit Marjann sprach Fine über das Verhalten der Dörfler.
»Ja, Kind«, sagte die alte Frau. »Du hast einen Trotzkopf, und ganz Reetz nimmt daran Anteil. Aber wer weiß, ob Amerika wirklich dein Glück geworden wäre.«
Fine nickte dazu. Nach außen hin verteidigte sie ihren Entschluss, im Dorf zu bleiben. Doch tief in ihrem Herzen war sie noch längst nicht sicher, ob sie richtig entschieden hatte. Alles Weitere musste die Zeit ergeben, sagte sie sich selbst.
Die Lüge
Am ersten freien Sonntagnachmittag nach Bastis Abreise saßen Fine und Marjann über der Landkarte der Vereinigten Staaten von Amerika. Mit dem Zeigefinger fuhren sie die Küstenlinie des Atlantischen Ozeans entlang. Ganz im Norden lebte Hannes im Staate Maine, und im Süden lag Florida: eine längliche Halbinsel, die weit ins Meer ragte. Dorthin war Basti jetzt unterwegs.
Auch nahmen die beiden Frauen sich noch einmal den Brief vor, den Hannes zum letzten Weihnachtsfest geschrieben hatte. Er teilte darin mit, dass er in der Lager-Firma zum Vorarbeiter ernannt worden sei. Dadurch steige sein Lohn, und er könne mehr zurücklegen für das Auskommen seiner Mutter.
»Du kannst stolz sein auf deinen Sohn«, meinte Fine und seufzte gleich darauf. »Ich wünschte, ich hätte schon die Nachricht von Basti, dass er und der Onkel wohlbehalten in Florida eingetroffen sind.«
»Das verstehe ich gut«, entgegnete Marjann, »aber es wird dauern. Noch haben sie ja nicht einmal das Schiff erreicht. Einen ganzen Monat wird die Überfahrt brauchen, und dann müssen sie noch wochenlang im Land reisen, bis sie den Gutshof erreichen.«
Fine wollte etwas antworten, da klopfte es an der Tür. Draußen stand Gudrun, in der Hand hielt sie eine mit Tinte beschriebene Karte aus feinem, weißem Papier. Marjann und Fine freuten sich über den unerwarteten Gast, baten die junge Frau herein und reichten ihr eine Tasse Minztee.
»Nun, Gudrun«, meinte Marjann. »Du strahlst ja so, da hast du uns sicher etwas Schönes zu sagen.«
Mit glänzenden Wangen überreichte Gudrun das Billett. »Das Trauerjahr ist nun um. Natürlich vermissen wir meinen Vater noch sehr, aber wir werden tun, was wir ihm noch auf seinem Totenbett versprochen haben: Am letzten Donnerstag im Mai wollen Gerd und ich heiraten. Und dazu laden wir aufs Herzlichste ein.«
Augenblicklich sprang die Freude der jungen Braut auf Fine und Marjann über. Zu dritt standen sie inmitten der Küche und hielten sich umarmt.
Marjann las schmunzelnd Gudruns Karte. »Wie fürnehm. Eine schriftliche Einladung. Da sieht man gleich, dass Gerd an wichtiger Stelle arbeitet. So etwas Elegantes bekommen wir Dörfler ja nur selten zu sehen.«
Gudrun errötete wegen des Lobs. »Die Billetts zu schreiben, hat uns große Freude bereitet. Und was Blau auf Weiß steht, lässt sich leichter merken.«
»Na, eure Hochzeit werden wir schon nicht verschlafen«, lachte Fine. »Aber das Billett ist wirklich schön. Nach eurer Feier möchte ich es mir gern neben den Spiegel stecken.« Sie wandte sich an Marjann. »Falls Ihr es mir überlasst, Tante.«
»Fine, Fine«, gab die alte Frau gewitzt zurück. »Das werde ich mir noch überlegen. Vielleicht brauche ich es ja noch als Vorlage. Wer weiß, ob mir nicht schon bald ein schöner junger Mann über den Weg läuft, der mein
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