Das Maedchengrab
Jahreszeit nach der nächsten. Fine erfüllte mit Eifer ihren Dienst auf dem Oberlandhof, und nach einem strengen Winter kamen wieder längere Tage. Voll gespannter Erwartung sah Fine dem neuen Jahr entgegen, in dem sie ihren fünfzehnten Geburtstag begehen sollte. Dann würde sie kein Mädchen mehr sein, sondern eine junge Frau.
Im März, an einem ihrer freien Sonntagnachmittage, saß sie bei Marjann in der Küche. Die Frühjahrssonne schickte erste warme Strahlen, und die Tür des Häuschens war weit aufgestellt.
Fine sah hinaus in den Garten, wo sich an den Büschen schon helles Grün zeigte. Erfüllt von Vorfreude meinte sie: »Wenn der Frühling anbricht, dann kann ich es gar nicht fassen. All das tausendfältige Keimen und Sprossen der Erde, all das Singen und Jubeln auf den Zweigen und in den Lüften. Wenn sich nur bald die ersten Lerchen zeigen. Ich will ihnen zusehen, wie sie die Flügel schlagen und jubilierend in die Lüfte steigen, bis sie nur noch als dunkle Punkte zu erkennen sind.«
Lächelnd schüttelte Marjann den Kopf über so viel Schwärmerei. Aber sie verspottete Fine nicht, sondern sagte: »Kind, Kind. Wie kannst du manchmal so wunderlich sein. Aber doch so treu und wahr in dem, was du sagst. Manchmal scheint es mir, als wäre tief in dir eine Dichterin verborgen.«
»Nein, Tante«, entgegnete Fine ernsthaft. »Eine Dichterin bin ich gewiss nicht, sondern nur eine Magd. Und vorletztes Jahr war ich bloß eine Gänsehirtin, dennoch habe ich den Dienst in guter Erinnerung. Auf den Hollerwiesen gibt es viele Lerchen, und mir wurde nie langweilig, ihnen zu lauschen, den ganzen Tag. Am Morgen singen sie anders als am Mittag, und am Abend nochmals anders. Auch dieses Jahr will ich ihnen wieder nachspüren, vom ersten zaghaften Frühlingsjauchzen an. Es ist so unglaublich: Man kann hören, wie ein einzelner Vogel im Frühling, im Sommer und im Herbst ganz unterschiedliche Töne in seinen Gesang mischt. Und schon wenn die ersten Stoppelfelder da sind, kann man eine neue Lerchenbrut singen hören.«
»Ja, mein Mädchen«, Marjann schenkte Tee nach, »es ist schon so eine Sache mit der Natur. Wir werden geboren und wachsen heran. Und ehe wir uns versehen, sind wir alt, und unsere Kinder übernehmen unsere Aufgaben. Und dann müssen wir auch schon bald sterben.«
»Aber Tante!« Liebevoll nahm Fine die Schwarze Marjann in den Arm. »So gesund wie Ihr seid, werdet Ihr noch lange leben«, wieder sah sie in den keimenden Garten hinaus und meinte: »Ich weiß selbst nicht, aber irgendwie kommt es mir vor, als brächte dieses Jahr große Veränderungen. Wenn ich auch nicht sagen kann, um was es dabei gehen mag.«
Wieder lächelte Marjann, sie tätschelte Fines Hand. »Das ist dein Alter, Kind. Du bist nun eine junge Frau. Da fühlt sich jeder Tag so an, als würde das Leben ganz neu erwachen. Wie jetzt im Garten.«
»Ja«, entgegnete Fine. »Wie schön Ihr das sagt, Tante. Genau so empfinde ich.« Und in ihre Augen traten Tränen des Glücks und der Hoffnung.
Fine sollte recht behalten mit ihrer Ahnung. Dieses Jahr, man zählte 1863 nach Christi, brachte große Veränderungen, und zwar schon bald. Kurz vor Ostern traf beim Oberlandbauern ein Schreiben ein, das für Fine und Basti viel entscheiden sollte.
Eines Nachmittags, sie war gerade dabei, eine kupferne Pfanne zu putzen, kam der Bauer mit einem Brief zu ihr in die Küche.
»Als Vormund von dir und Basti habe ich eine Nachricht für euch«, erklärte er ohne Umschweife. »Du weißt wohl, dass ihr einen Onkel habt? Einen Bruder eures Vaters.«
Einen Moment lang zögerte Fine, so überrascht war sie. Dann fiel ihr ein, um wen es offenbar ging: »Ja, unser Onkel Tonnes. Aber der lebt doch längst in Amerika. Ich kenne ihn nur daher, dass unser Vater ihn manchmal erwähnte.«
»Richtig«, der Oberlandbauer straffte die Schultern, so als wollte er seinen eigenen Worten mehr Bedeutung beimessen. »Antonius Aldenhoven heißt euer Onkel. Er ist kurz nach deiner Geburt ausgewandert. Ich erinnere mich an ihn, denn wir gingen gemeinsam zur Schule. Es heißt, dass er es zu einigem Wohlstand gebracht hat.«
Fine blickte angestrengt auf das Papier, das ihr Vormund in den Händen hielt. Sie gierte danach zu erfahren, was dort geschrieben stand. Doch allzu fordernd wollte sie nicht nachfragen. Also wartete sie, bis der Bauer fortfuhr: »Euer Onkel wird bald in unser Dorf zurückkehren. Es drängt ihn, dich und deinen Bruder zu sehen.«
»Aber warum denn
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