Das Maedchengrab
Gudrun draußen nach den Hühnern sah, bot er Fine einen Platz am Tisch an und setzte sich mit Kladde und Bleistift zu ihr. »Die Mutter von Bärbel hat etwas gefunden«, erklärte er. »Wohl nur aus Zufall und in der hintersten Ecke einer Kommode. Es handelt sich um ein Tagebuch. Bis zu ihrem Todestag hat Bärbel darin Eintragungen gemacht.« Er sah Fine fragend an.
»Darüber weiß ich nichts«, sagte sie sogleich. »Sie hat mir nie erzählt, dass sie ein Tagebuch führt.«
Gerd machte sich Notizen. »Denk bitte genau darüber nach. Vielleicht hat Bärbel ja doch so etwas erwähnt.«
»Sicherlich nicht«, entgegnete Fine. »In unserem letzten Schuljahr haben wir in der Klasse über Tagebücher gesprochen. Damals sagte Bärbel, sie habe keins. Das weiß ich noch gut. Wenn sie mir später doch von einem erzählt hätte, würde ich mich gewiss erinnern. Aber ihr könnt doch auch die anderen Mägde danach fragen.«
Gerd seufzte auf. »Das ist unsere Schwierigkeit, Fine. Die Polizei muss sich genau überlegen, wen sie in dieser Sache befragt. Denn es geht um etwas sehr Heikles.«
Fine blickte verständnislos.
Bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr Gerd fort: »Bärbel schreibt darin, sie habe einen Geliebten, der viel älter sei als sie«, Gerd machte eine Pause und sah Fine eindringlich an. »Und dieser Mann ist angeblich der Lohbauer.«
»Der Lohbauer!«, entfuhr es ihr vor Schrecken, und sogleich verstand sie, warum die Polizei so vorsichtig mit der Sache umgehen musste. »Bärbel und der Lohbauer haben sich geliebt?«
»So steht das jedenfalls in ihrem Tagebuch: eine ernste Liebschaft. Demnach waren die beiden zusammen, wie erwachsene Männer und Frauen es eben sind.«
Fine hielt sich die Hände vor ihr Gesicht, so entsetzt war sie von der Neuigkeit.
»Ob es tatsächlich so war, wissen wir nicht«, fügte Gerd hinzu. »Nun überlegen wir, wer davon verlässlich gewusst haben könnte.«
Fine legte ihre Hände wieder auf die Tischplatte. Sie suchte nach klaren Gedanken. »Und Bärbels Mutter? Was sagt die?«
»Es tut mir leid, Fine. Aber darüber muss ich Stillschweigen wahren«, erwiderte Gerd freundlich. »Nur soviel sollst du wissen: Wir brauchen Zeugen, die eindeutig bestätigen, dass es diese Liebschaft gab.«
»Aber dann hätte der Lohbauer doch gegen die Gesetze verstoßen?«, fragte Fine aufgeregt. »Und er müsste vielleicht sogar ins Gefängnis. Oder etwa nicht?«
»Falls es sich bestätigen sollte, bekäme er eine harte Strafe«, entgegnete Gerd ruhig. »Wegen Unzucht mit einer minderjährigen Schutzbefohlenen. Aber solange wir keine handfesten Beweise haben, können wir gegen ihn nichts unternehmen.«
Fine überlegte. »Und warum zweifelt die Polizei daran, dass Bärbel die Wahrheit geschrieben hat? Etwa nur, weil sie noch nicht erwachsen war?«
»Nichts gegen die Jugend«, erwiderte Gerd beschwichtigend, offenbar hatte er Fines Verstimmung wahrgenommen. »Auch junge Menschen, sogar Kinder, können glaubhafte Zeugen sein. Aber in diesem besonderen Fall müssen wir uns fragen: Kann es sein, dass der Tagebucheintrag nur eine Phantasterei ist? So, wie sie bei jungen Mädchen eben oft vorkommt? Möglicherweise war Bärbel zwar ihrerseits in den Lohbauern verliebt, hat sich das Weitere aber nur ausgedacht.«
»Stellt der Lohbauer das so dar?«, fragte Fine rasch. »Weil er damit jeden Vorwurf von sich wenden könnte?«
»Du hast eine gute Auffassungsgabe«, Gerd zog anerkennend die Stirn hoch. »Ich darf dir zwar nicht sagen, was der Lohbauer zu Protokoll gegeben hat. Aber wenn du es selbst durch die Zusammenhänge erkennst, kann dir das niemand verbieten.«
Fine freute sich über das Lob, wurde dann aber wieder ernst. »Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, was wirklich war. Damals in der Schule sprach Bärbel oft ganz traurig davon, dass sie ohne Vater groß werden musste.«
»In diese Richtung überlegen wir auch«, Gerd sah Fine eindringlich an. »Steckt dahinter womöglich das Wunschdenken einer Halbwaisen, die sich nach einem gütigen Vater und Liebhaber in einer Person sehnt?«
Fine atmete tief. Die Unterredung strengte sie an. »Aber zumindest einen Teil dessen, was Bärbel im Tagebuch schreibt, lässt sich doch zweifelsfrei nachweisen. Die Leichenärzte in Bonn haben sie doch bestimmt untersucht. So wie Lisbeth auch.«
»Richtig«, entgegnete Gerd sachlich. »Und ich verstehe schon, worauf du anspielst. Die Ärzte haben herausgefunden, dass Bärbel schon mit einem Mann zusammen
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