Das Maedchengrab
Dienst nicht nehmen lassen. In stundenlanger Arbeit hatten sie das Haar der Braut zu dieser Pracht entfaltet. Wie ein Diadem umkränzten zudem weißen Margeriten Gudruns Haupt. Die gleichen Blumen fanden sich, ergänzt um ein Sträußchen Grün, am Revers von Gerds Landjäger-Uniform wieder. Nur selten – darüber waren sich später alle Gäste einig – hatte man im Dorf ein so vortrefflich ausgestattetes, und dabei doch bescheidenes Brautpaar erlebt.
Der Vikar hielt eine wohlgesetzte Traupredigt und gab dem jungen Paar einen Spruch aus den Korintherbriefen mit auf den Weg: »
Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen
.«
Es gab wohl niemanden unter den Gästen, den diese Worte nicht tief bewegten. Selbst den stattlichsten Männern standen Tränen der Rührung in den Augen.
Nach der Messe folgten einige Bräuche. Beim Heraustreten aus der Kirche wurde das junge Paar nicht weitergelassen. Freunde hatten vor der Pforte ein Seil gespannt. Erst als Gerd süßes Fladenbrot und Wacholderschnaps reichen ließ, machte man den Weg frei. Doch gleich darauf geriet die ganze Gesellschaft erneut ins Stocken: Gerds Mitstreiter von der Gendarmerie standen Spalier und gaben unter lautem Jubel der Gäste aus ihren Landjäger-Gewehren etliche Schüsse Salut ab. Auf das glückliche Paar!
In der Mitte des Ortes gab es eine Kreuzung zwischen der Hauptstraße nach Blankenheim und einem schmaleren Weg, der zur Kirche führte. Auf halber Strecke zwischen Kreuzung und Gotteshaus lag ein Gasthof.
Zum Schlösschen
, so stand es gut lesbar auf einem Schild über dem Eingang. Dieser Name musste für mancherlei Scherz herhalten. Denn es handelte sich bei dem Wirtshaus selbstredend nicht um eine hochherrschaftliche Anlage. Vielmehr kam der Name daher, dass der erste gewerbliche Wirt von Reetz ein gelernter Schlosser gewesen war. Als Gesellenstück fertigte er ein kleines Vorhängeschloss an, das bemerkenswert fein und raffiniert gearbeitet war. Viele Jahre später, nachdem seine Sehkraft nachgelassen hatte, war er Wirt geworden. Das kleine Schloss hing seitdem über dem Tresen und hatte dem Gasthaus seinen Namen gegeben.
Vor einigen Jahren hatte hier ein junger Mann seinen Dienst angetreten. In fünfter Generation der Wirtsfamilie führte nun Peter Sevenich das Gasthaus. Die Reetzer riefen ihn Pitterwirt. Er war ein Junggeselle von gut zwanzig Jahren, und es drängte ihn offenbar nicht, den heiligen Stand der Ehe aufzusuchen. Dabei mangelte es ihm nicht an Angeboten. Mit seiner Schankstube machte er gute Geschäfte. So mancher Vater im Dorf hätte seine Tochter beim Pitter als Ehemann in guten Händen gewusst, denn er verfügte über flinke Augen und Hände.
Obwohl noch jung, leitete Pitter sein Gasthaus mit Umsicht. Die Leute durften ihre Zeche anschreiben lassen, aber er wies sie verbindlich darauf hin, wo die Grenze für ihren Kredit lag. Wenn ein Gast sich zu sehr am Alkohol gelabt hatte, laut pöbelte oder gar randalierte, bewies Pitter ein gutes Händchen, ihn hinaus zu setzen. In Bierkeller und Küche achtete er auf Sauberkeit, und seine Bedienungen, beides junge Frauen, waren züchtig gekleidet. So sicherte er dem
Schlösschen
den Ruf einer soliden Gaststätte, in die Frauen ihre Männer unbesorgt ziehen ließen.
Pitter betrieb sein Haus so erfolgreich, dass er es in den letzten Jahren sogar vergrößern konnte. An der Rückseite ließ er einen Anbau errichten für eine geräumige Gaststube und einen Keller für Weinflaschen und Bierfässer, zu dem eine breit angelegte Rampe führte.
Seit der Erweiterung meinten die Reetzer anerkennend: »Pitter, nun hast du kein Schlösschen mehr, jetzt ist es ein richtiges Schloss.«
Und der junge Wirt galt endgültig als eine der besten Heiratspartien im Dorf.
Im
Schlösschen
also, in der neuen großen Gaststube, wollte man die Hochzeit feiern. Gleich am Eingang standen Gudruns alte Freundinnen Eva und Anna. Beide waren längst Eheweiber und Mütter. Gudrun hingegen galt mit ihren dreiundzwanzig Jahren nicht mehr als ganz junge Braut. Doch jeder im Dorf wusste, dass sie wegen der Krankheit ihres Vaters so lange mit dem Heiraten gewartet hatte.
Sobald ein Gast sich dem Festsaal näherte, steckten Eva und Anna ihm eine Schleife an. Entweder in Blau, wenn der Gast verlobt oder verheiratet war, oder in Rot als Zeichen für das Ledigsein.
»Wie schön das aussieht auf dem Samt«, meinte Anna, während sie ein rotes Bändchen um einen Perlmuttknopf auf Fines Mieder knotete. »Und es fällt
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