Das Magdalena-Evangelium: Roman
Tür einen Spaltbreit offen stehen.
Dankbar und erleichtert stieß sie den angehaltenen Atem aus. »Ich danke dir«, sagte sie zum Himmel. Sie wusste nicht, ob es Sinclairs Tat gewesen war oder göttliche Einmischung, aber beides war ihr gleich recht.
Vorsichtig erklomm Maureen die wenigen Stufen. In dem seltsamen Gebilde aus Stein war es stockfinster, und die schwarze Türöffnung gähnte ihr entgegen. Sie schluckte ihre klaustrophobischen Ängste hinunter und bezwang ihre Furcht. Tammy hatte ihr erzählt, dass sowohl Sinclair als auch Saunière ihre Türme nach den Grundsätzen der spirituellen Numerologie errichtet hatten. Maureen zählte sorgfältig, sie wusste, dass sie nach der zweiundzwanzigsten Stufe die Tür vor sich finden würde. Die Tür ging auf, und Mondschein ergoss sich über die Turmtreppe. Maureen trat hinaus auf die Plattform.
Eine volle Minute stand sie da und nahm die beklemmende Schönheit der warmen Nacht in sich auf. Da sie nicht wusste, wonach sie suchen sollte, wartete sie. Sie war so weit gekommen, nun musste sie auch den Glauben bewahren, dass ihr Weg hier nicht enden würde.
Der Mond hob etwas hervor, das sie bei dem Besuch mit Sinclairnicht bemerkt hatte. In die steinerne Wand hinter der Tür war eine Sonnenuhr gemeißelt, ähnlich der, die sie in Rennes-le-Château gesehen hatte. Maureen fuhr mit den Fingern über die Linien, war jedoch mit den Symbolen nicht vertraut genug, um bestimmen zu können, ob sie der anderen Sonnenuhr genau glich oder nur ähnlich war. Während sie noch darüber nachsann, ging sie langsam zu dem zentralen Ausguck zurück – denn sie vermeinte für einen Augenblick etwas am Horizont gesehen zu haben. Und so wartete Maureen und spähte in die Nacht des Languedoc.
Dann sah sie es wieder, zunächst wie einen Blitz im Augenwinkel. Sie musste zweimal hinschauen, wie auch bei jenem ersten Besuch, als sie mit Sinclair hier oben gestanden hatte. Etwas kaum Fassbares, ein Licht oder eine Bewegung lenkte ihren Blick auf einen bestimmten Ort am Horizont. Maureen wandte sich der Stelle zu und sah, wie das Mondlicht aufzuleuchten schien. Es lag auf einer ganz bestimmten Stelle – einem Stein? Einem Gebäude?
Und dann wusste sie es. Es war die Grabruine. Das Licht verstärkte sich an der Stelle des Grabmals, das Poussin einst gemalt hatte.
Natürlich. Es lag offen zutage, wie alles bisher. Man musste nur genau hinschauen.
Das Licht bewegte sich weiter und wurde immer deutlicher und dichter, als ob es eine längliche menschliche Gestalt annähme. Es war nun eine schillernde Form; lebendig und tanzend bewegte es sich über die Felder auf sie zu, dann wieder von ihr weg. Es bedeutete ihr, ihm zu folgen, zeigte ihr den Weg. Völlig gebannt sah sie ihm so lange zu, wie sie es wagte, bevor sie die einzige mögliche Entscheidung traf – ihm zu folgen.
Maureen riss die Tür ganz auf, damit der Mondschein die Treppe bis unten erhellte. Jetzt rannte sie, rannte die Treppe hinunter und aus dem Turm. Doch draußen angekommen, hielt sie jäh inne. Das Problem war: Wie sollte sie im Dunkeln zudem Grab gelangen? In Luftlinie ging es nicht, es gab keine Möglichkeit, auf geradem Weg durch dieses felsige, dornige Terrain zu gelangen.
Der einzige sichere Weg, der Maureen einfallen wollte, war die Zufahrt zum Château. Von dort konnte sie auf die Hauptstraße und um das Schlossgelände herum zu ihrem Ziel gelangen. Sie musste dazu am Eingang des Hauses vorbeigehen und sodann eine öffentliche Straße benutzen. Rasch eilte sie den überwachsenen Pfad zurück und sah in einiger Entfernung das Château vor sich. Dunkel und still lag es da. So weit, so gut. Sie rannte auf dem Kopfsteinpflaster der Einfahrt weiter, bis sie das Tor erreichte.
Zu Maureens Erleichterung war das Tor mit Bewegungsmeldern versehen, und die Flügel öffneten sich beim Näherkommen mit einem mechanischen Surren. Sie eilte hindurch und wandte sich auf der Straße nach links. Es war mitten in der Nacht, die Chance daher gut, dass keine Autos mehr unterwegs waren. Die Stille, die sie umfing, war so tief, dass sie schon fast unheimlich wirkte. Die Ländereien, die zum Château gehörten, waren riesig, und es gab keine unmittelbaren Nachbarn. Der einzige Laut, den Maureen hörte, kam von ihrem eigenen pochenden Herzen.
Sie hielt sich so nah wie möglich am Straßenrand und behielt die Umgebung scharf im Auge.
Maureens Herz hämmerte in ihrer Kehle, und sie musste sich zwingen, nicht in Panik zu verfallen, als
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