Das Magdalena-Evangelium: Roman
im Stich lassen. Maria hatte es versprochen. Alles, worum Isa gebeten hatte, war die Anwesenheit von Mutter und Ehefrau in seinen letzten Stunden.
Kurz bevor sie das Haus verließen, holte die Hohe Maria die Insignie der Priesterinnen, den prächtigen roten Schleier. Sie reichte ihn Maria Magdalena. »Trage ihn, meine Tochter. Du bist eine Nazarenerin und eine Königin, jetzt mehr als zuvor.«
Maria Magdalena nickte, nahm den Schleier und drapierte ihn in seiner vollen Länge um ihren Körper. Sie war sich bewusst, dass ihr Leben sich von Stund an vollkommen verändern würde.
»Ans Kreuz mit ihm! Ans Kreuz mit ihm!«, ertönte der vielstimmige Ruf der Menge. Pilatus betrachtete die Menschen mit einer Mischung von Hilflosigkeit und Abscheu. Die grausame Auspeitschung des Nazareners hatte den Pöbel nicht befriedigt, im Gegenteil, sie schien die Menschen noch anzustacheln, nun das Leben des Gefangenen zu fordern. Ein Mann war vorgetreten mit einer Krone, die aus den messerscharfen Ranken des syrischen Stechdorns geflochten war. Er schleuderte sie auf Isa, der immer noch an der Geißelsäule hing, den wund gepeitschtenRücken der grellen Morgensonne ausgesetzt. »Hier ist deine Krone, wenn du ein König bist!«, gellte der Mann, während die Menge in spöttisches Lachen ausbrach.
Praetorus löste Isas Fesseln und war eben im Begriff, ihn von der Geißelsäule fortzubringen, als Longinus die Dornenkrone aufhob und brutal auf Isas Kopf drückte. Die Haut unter den Haaren und an der Stirn riss auf; Blut vermischte sich mit Schweiß, der Isa in die Augen rann, während die feindselige Menge lautstark Beifall klatschte. »Das reicht, Longinus!«, herrschte Praetorus seinen Kameraden an.
Der lachte – ein hartes, bitteres Lachen. »Du wirst zu weich.« Er spuckte vor Praetorus aus. »Du bist ein Spielverderber, hast diesen König der Juden gar nicht richtig gepeitscht!«
Praetorus’ Antwort erfolgte in so eisigem Ton, dass es dem harten Longinus eiskalt den Rücken hinunterlief. »Wenn du ihn noch einmal unnötig anrührst«, sagte er, »wirst du eine passende Narbe auf deiner anderen Wange bekommen.«
In diesem Augenblick trat Pilatus dazwischen, der den drohenden Streit zwischen den beiden Soldaten spürte. Das durfte er nicht erlauben. Was sie einander später, ohne Zeugen, antun mochten, ging ihn nichts an, aber im Augenblick musste er die Oberhand behalten. Der Prokurator hielt seine Hände hoch und wandte sich an die Menge.
»Seht, da ist der Mensch!«, rief Pilatus. »Ein Mensch, sage ich. Kein König. Ich habe keine Schuld an diesem Mann feststellen können, und er ist nach römischem Recht ausgepeitscht worden. Mehr können wir nicht tun.«
»Ans Kreuz mit ihm! Ans Kreuz mit ihm!«, lautete die Antwort der Menge, als sei die Zeile geprobt worden, bis sie für die Bühne tauglich war. Pilatus war wütend über die offensichtliche Beeinflussung der Menge und die Rolle, in die er dadurch gedrängt wurde.
Er legte Isa die Hand auf die Schulter, beugte sich herab und sprach zu ihm. »Höre, Nazarener«, sagte er leise. »Dies ist deineletzte Möglichkeit, dich zu retten. Ich frage dich, bist du ein König der Juden? Denn wenn du sagst, dass du es nicht bist, habe ich keinen Grund, dich nach römischem Recht zu kreuzigen. Sondern ich habe die Macht, dich freizulassen.« Den letzten Satz sagte er mit höchster Dringlichkeit.
Isa schaute Pilatus lange an.
Sag es, verdammt! Sag es!
Es war, als hätte Isa Pontius Pilatus’ Gedanken gelesen, denn er antwortete flüsternd: »Ich kann es dir nicht leichter machen. Unser Schicksal war vorbestimmt, doch du musst jetzt deinen eigenen Herrn wählen.«
Die Spannung in der Menge war kaum noch zu bändigen; weitere Schreie gellten in Pontius Pilatus’ Ohren. Es gab auch Stimmen, die für den Nazarener sprachen, viele Stimmen. Doch sie wurden von den blutrünstigen Schreien der Priestergehilfen übertönt, die gutes Geld erhalten hatten, um ihre heutige Aufgabe zu erfüllen. Pilatus’ Nerven waren zum Zerreißen gespannt, während er seine Pflicht, seinen Ehrgeiz, seine Überzeugungen und die Sicherheit seiner Familie gegen das Leben dieses Nazareners in die Waagschalen warf. Plötzlich hörte er eine laute Stimme zu seiner Linken. Er fuhr zusammen. Da stand ein Bote des Herodes, des Tetrarchen von Galiläa.
»Was ist?«, herrschte Pilatus den Mann an.
Der Bote händigte dem Prokurator eine Rolle mit dem Siegel des Herodes aus. Pilatus erbrach das Wachssiegel und
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