Das Magdalena-Evangelium: Roman
das aus dem Kelch spritzte. Dann schloss er die Augen und rezitierte einen Teil der Prophezeiung:
»Marie de Nègre soll bestimmen, wann die Zeit für die Verheißene gekommen ist. Sie, die aus dem Paschalamm geboren ist, da Tag und Nacht gleich sind; sie, die sie ein Kind der Wiederauferstehung ist. Ihr, die sie das Sangre-El trägt, wird man den Schlüssel gewähren, wenn sie den Schwarzen Tag des Schädels sieht. Sie wird die neue Hirtin werden und uns den Rechten Weg weisen.«
Maureen verschlug es die Sprache. Sinclair nahm erneut ihre Hand. »Der Schwarze Tag des Schädels. Golgatha, der Ort der Kreuzigung, heißt übersetzt ›Schädelstätte‹, und der Schwarze Tag ist das, was wir heute Karfreitag nennen. Die Prophezeiung deutet darauf hin, dass die Tochter der Blutlinie, die eine Vision der Kreuzigung hat, in der Folge davon den Schlüssel erhalten wird.«
»Den Schlüssel zu was?« Maureen verstand noch immer nicht. In ihrem Kopf überschlugen sich die Informationen.
»Den Schlüssel zu Maria Magdalenas Geheimnis. Ihrem Evangelium. Einem Bericht aus erster Hand über ihr Leben und ihre Zeit. Sie hat es mit Hilfe irgendeiner Art von Alchemie verborgen. Es kann nur gefunden werden, wenn bestimmte spirituelle Kriterien erfüllt sind.«
Er deutete auf die Statue des jungen Mannes und besonders auf den Kelch, den er in Händen hielt. »Das ist das, wonach so viele so lange gesucht haben.«
Maureen versuchte, zu denken und die Myriaden von Gedankenzu ordnen, die ihr durch den Kopf gingen. Der Kelch. Es machte Klick. »Der Kelch, den er hält … Das ist der Heilige Gral!«
»Ja. Das Wort ›Gral‹ stammt von dem alten Begriff Sangre-El , was ›Blut Gottes‹ bedeutet. Natürlich ist er das Symbol der göttlichen Blutlinie. Aber sie haben nicht nur nach den Kindern der Blutlinie im Allgemeinen gesucht. Die meisten Gralsritter stammten selbst von diesem Blut ab, und sie wussten ganz genau, was dieses Vermächtnis bedeutete. Nein, sie haben nach einem bestimmten Nachkommen gesucht: einer Gralsprinzessin, die man auch als die Verheißene kennt. Sie ist die Tochter, die den Schlüssel hat, den alle wollten.«
»Warten Sie mal eine Minute. Wollen Sie damit etwa sagen, die Suche nach dem Heiligen Gral sei in Wahrheit die Suche nach der Frau aus dieser Prophezeiung gewesen?«
»Zum Teil, ja. Das jüngste Kind, Jeshua-David, ging mit seinem Großonkel nach England, dem Mann, den die Geschichte als Josef von Arimathea kennt. Gemeinsam haben sie die ersten christlichen Siedlungen in Britannien gegründet. Dort wurden dann auch die Gralslegenden geboren.«
Sinclair deutete auf eine weitere Statue im selben Gartenteil, doch in der Ferne. Sie schien einen König mit einem riesigen Schwert darzustellen.
»Warum, glauben Sie wohl, war König Artus als Rex Quondam Rexque Futurus bekannt, der einstige und zukünftige König? Weil er von Jeshua-David abstammt. Bis heute lassen sich einige britische Adelsfamilien auf ihn zurückführen – viele davon in Schottland.«
»Sie eingeschlossen.«
»Ja, mütterlicherseits. Aber väterlicherseits stamme ich von Sarah-Tamars Linie ab … wie Sie auch.«
Ein unpassendes Piepen unterbrach ihn. Er fluchte, zog das Handy aus der Tasche, sprach in schnellem Französisch und legte auf.
»Das war Roland. Jean-Claude ist eingetroffen, um Sie mir wegzunehmen.«
Maureen konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Sie war noch nicht bereit, die Gärten zu verlassen. »Aber ich habe den dritten Garten noch nicht gesehen.«
Sinclairs Gesicht schien sich ein wenig zu verdunkeln. Es war kaum zu sehen, aber es war da.
»Vielleicht ist das auch besser so«, sagte er. »Es ist so ein schöner Tag. Und das«, er nickte in die entsprechende Richtung, »ist der Garten von Magdalenas ältestem Sohn.«
Er beantwortete Maureens unausgesprochene Frage auf jene typische rätselhafte und vage Art, die alle Leute in dieser Gegend so sehr zu lieben schienen. Das machte Maureen verrückt.
»Und während er auf seine Art schön ist, gibt es in diesem Garten viel zu viele Schatten für einen Tag wie diesen.«
Als Sinclair Maureen aus dem Garten hinausführte, blieb er am Tor kurz stehen.
»Am Tag Ihrer Ankunft haben Sie mich gefragt, warum ich so versessen auf Lilien sei. Das ist der Grund. Das französische Wort ›fleur-de-lis‹ bedeutet eigentlich ›Blüte der Lilie‹, und wie Sie jetzt wissen, ist die Lilie das Symbol Maria Magdalenas. Die ›Blüte der Lilie‹ repräsentiert ihre Kinder.
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