Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
Menschen mehr liebte, doch so etwas lag nicht in der Natur eines liebenden Vaters, denn Eltern sollten ihre Kinder gleich viel lieben, und die himmlischen Eltern bildeten ganz sicher keine Ausnahme von dieser Regel.
Nein, Colombina war nicht neidisch auf Simonettas Schönheit oder die Aufmerksamkeiten der Männer. Sie selbst wusste gut genug, was es bedeutete, im Mittelpunkt männlicher Aufmerksamkeit zu stehen, und dass diese Rolle nicht immer leicht war. Schöne Frauen, und waren sie noch so tugendhaft, waren allzu oft Gegenstand neidischer Blicke und klatschsüchtiger Zungen. Colombina war schon einigen Florentiner Ehefrauen über den Mund gefahren, die abfällige Bemerkungen über die Tugend Simonettas gemacht hatten. Es erboste sie über die Maßen, dass die engstirnigen und eifersüchtigen Florentinerinnen zu dem Schluss gelangt waren, Simonetta müsse Giuliano de’ Medicis Geliebte sein – nur, weil er während eines Turniers ihrer Schönheit Tribut gezollt hatte. Das aber war auf die alten Troubadour-Traditionen zurückzuführen, die bei den Medici und den Männern des Ordens in hohem Ansehen standen. Während Giulianos giostra , demTurnier zur Feier seiner Volljährigkeit, war Simonetta auserkoren worden, die Königin der Schönheit darzustellen, so wie Colombina einst für Lorenzos Feier erwählt worden war. Doch es war nur ein Symbol, ein mythischer Thron, mit der Frau zu besetzen, die von den jungen Florentinern als beste Verkörperung der Venus erwählt wurde.
Von dem Tag an, als Simonetta Sandro Botticelli vorgestellt wurde, wurden die Gerüchte geradezu bösartig.
Sandro war förmlich von Simonetta besessen. Des Nachts fand er keinen Schlaf, weil ihm ihr Bild vor Augen stand. Sie wurde seine einzige Muse, das Modell für jede Nymphe und jede Göttin, die er malte. Unablässig zeichnete er in den Nächten Simonettas Gesicht, versuchte dessen Ausdruck einzufangen und ihrem zauberhaften Haar gerecht zu werden, das ihr Antlitz mit einer Flut schimmernder Locken umrahmte. Er stellte sich Simonettas Leib unter den schweren Florentiner Kleidern vor und wusste, dass dessen schlanke Vollkommenheit schöner war als alles, was er bislang gesehen hatte. Nie hatte Sandro beabsichtigt, Gerüchte anzufachen, aber ganz Florenz tuschelte, dass Simonetta nackt für ihn posiere. Und die Feinde des Ordens vergifteten die Gerüchte zusätzlich, indem sie diese zu angeblichen Orgien ausweiteten, in denen Simonetta sich zunächst Sandro hingab und dann den Medici-Brüdern.
Colombina war von dem Gerede angewidert. Diese Gerüchte stellten ihre Überzeugung infrage, dass sie stets mit Liebe handeln müsse, denn mitunter fiel es ihr schwer, jene zu lieben, die ihre geistige Familie, den Orden, verunglimpften. Sie liebte Simonetta wie eine Schwester und wollte sie vor den ätzenden Anwürfen der Eifersüchtigen und Intoleranten beschützen. Und doch sollte Colombina eine der vielen Lektionen, die sie im Laufe ihres Lebens lernte, durch die schöne Genueserin zuteil werden.
Nachdem sie auf dem Markt ein besonders abscheuliches Gerücht über Simonetta gehört hatte, stellte Colombina die beiden gehässigen Mädchen, die es ausgestreut hatten, öffentlich zurRede. Sie war außer sich vor Zorn, dass die liebliche Simonetta ständig Gegenstand übler Nachrede war. Außerdem war sie in dieser Hinsicht besonders empfindlich, da sie selbst jahrelang von bösen Zungen schikaniert worden war: Hinter verschlossenen Türen nannte man sie nur »Lorenzos Hure«.
Simonetta hörte von dem Vorfall, der in der Stadt rasch die Runde machte, und kam zu ihrer Freundin und Beschützerin.
»Die kleine Taube hat Krallen, so hört man«, scherzte sie gutmütig.
Colombina umarmte Simonetta. »Ich konnte nicht anders. Diese beiden Mädchen waren so giftig in ihrer Eifersucht, so hasserfüllt in ihren ungerechten Reden. Ich konnte ihnen das nicht einfach durchgehen lassen.«
Simonettas Augen schimmerten verdächtig, doch sie unterdrückte die Tränen. »Es stört mich weniger, als du glaubst, Schwester, und auf jeden Fall weniger als dich. Ich weiß, was diese Frauen über dich und mich reden. Doch es spielt keine Rolle. Wie der Meister uns lehrt, ist es der Kampf aller Elemente des Schönen, in dieser Welt anerkannt und beschützt zu werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Kampf uns verletzt oder zornig macht. Wurde unsere gesegnete Magdalena nicht auch eine Hure genannt?«
»So nennt man sie immer noch«, erwiderte Colombina. Dass
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