Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
Maria Magdalena, die Geliebte Jesu und Apostelin der Apostel, als Prostituierte und reuige Sünderin bezeichnet wurde, war ein Unrecht, das Colombina schmerzte. Als sie die Geschichte der Madonna Magdalena studierte, hatte Colombina zum ersten Mal begriffen, gegen welche Widerstände die Lehre des Weges der Liebe im Laufe der Jahrhunderte gekämpft hatte. Maria Magdalena war in den Tagen des aufdämmernden Christentums zu einer Gefahr für die etablierte römische Kirche geworden. Sie stand für die Schattenseite des Christentums, für eine Reihe von Lehren, die für die politischen Strategien oder wirtschaftlichen Ziele Roms nicht zu gebrauchen waren. Der Weg der Liebe, wie er aus dem Buch der Liebe und später aus dem Libro Rosso gelehrtwurde, war rein und wurde hauptsächlich von Frauen gelehrt.
Colombina hatte innerhalb des Ordens eine besondere Rolle inne. Sie war seine neue Schreiberin und brachte unter Anleitung Fra Francescos die alten Prophezeiungen der Magdalena-Blutlinie zu Papier. Colombina war verantwortlich dafür, dass die mündliche Überlieferung des Ordens nicht ausstarb. Ihre derzeitige Aufgabe bestand darin, die Geschichte der französischen Prophetin Jeanne aufzuschreiben, die wegen Ketzerei auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war. Colombina spürte eine besondere Verbundenheit mit der kleinen Jungfrau aus Lothringen und träumte oft von ihr. Manchmal besuchte Jeanne sie in ihren Träumen und sprach von Wahrheit und Mut, aber Colombina berichtete nur Fra Francesco und Lorenzo von diesen Träumen.
Gemeinsam mit Ginevra entwickelte Colombina sich zu einer beachtlichen Kraft für die Florentiner Ketzerei.
RRRRRRRRRRRRR
Florenz
1473
»Clarice de’ Medici ist guter Hoffnung – schon wieder. Ist das zu fassen?«
Costanza Donati, Colombinas kleine Schwester, konnte es nicht abwarten, ihre Neuigkeiten loszuwerden. Costanza war hübsch, aber sie war auch eine Klatschbase, die zur Gehässigkeit neigte, weil sie so eifersüchtig war auf die schöne Schwester.
»Wie sehr ich sie beneide«, seufzte Colombina. »Ob sie es wohl zu schätzen weiß? Dass sie seinen Namen trägt und jeden Morgen in seinen Armen aufwachen darf, so selbstverständlich, wie die Sonne aufgeht. Dass sie … seine Kinder austrägt.« Bei den letzten Worten schnürte sich ihr die Kehle zu, denn es warein ganz besonderer, geheimer Schmerz, den sie niemandem anvertraute, ganz bestimmt nicht Lorenzo.
»Du weißt doch gar nicht, ob sie jeden Morgen in seinen Armen erwacht.« Costanza senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Raunen. »Du hast doch sicher schon gehört, was man munkelt? Dass Lorenzos Hausapotheker eine Tinktur mixt, die Lorenzo so potent macht, dass er seine Frau auf der Stelle schwängert, wenn er ihr beiwohnen muss. Und dann hat er die nächsten zehn Monate Ruhe vor ihr.«
»Das ist dummes Geschwätz, Schwester. Lorenzo ist der edelste Mann, den ich kenne. Er behandelt seine Ehefrau wie eine Königin. Sie ist die Mutter seiner Kinder, dafür verehrt er sie.«
»Oh, natürlich fehlt es Madonna Clarice an nichts!«, sagte Costanza ironisch. »Aber sie ist kälter als Carrara-Marmor und dabei lauwarm wie Spülwasser. Ihr seid so unterschiedlich, wie ihr nur sein könnt, und Lorenzo betet allein vor deinem Altar. Sozusagen.«
Colombina stimmte für einen Augenblick in das alberne Gekicher ein; dann kehrte sie zu ihrem Gedankengang zurück. Costanza war nicht gerade die beste Zuhörerin, aber sie war eine Verwandte und im Grunde loyal, auch wenn sie sich schnippisch gab. Und Colombina brauchte einen Menschen, mit dem sie reden konnte.
»Verstehst du denn nicht, was ich meine, ’Stanza? Clarice lebt in seinem Haus, und sein Wappen ist in ihr Ehebett graviert. Was würde ich darum geben, selbst einmal zu erleben, wie sich das anfühlt!«
Überraschenderweise schien Costanza tatsächlich zuzuhören. Ihre nächste Bemerkung zeugte sogar von Einfühlungsvermögen.
»Weißt du, was tragisch ist? Ich glaube, dass Clarice dich noch mehr beneidet. Kannst du dir vorstellen, wie es sein muss, so einen prächtigen Mann zum Gemahl zu haben und zu wissen, dass du ihm nie genügen wirst? Dass er die Augen schließt undan eine andere denkt, wenn er dich berührt? Übrigens möchte ich wetten, dass er sie niemals küsst.«
Colombina war blass geworden. Costanza würde nie begreifen, wie nahe sie der Wahrheit kam. Küssen wurde in der Tradition des Hieros gamos als eines der bedeutendsten Sakramente
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