Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
Mutter, die, wider allen menschlichen Gefühls, ihre Kinder ermutigt hat, ihr Erdenleben vor ihr zu beenden.«
Tammy hielt es nicht mehr aus. Schon unter normalen Umständen fiel es ihr schwer, zu schweigen, doch nun trug sie selbst ein Kind, und alles in ihr rebellierte gegen das Gehörte. Unbewusst legte sie eine Hand auf ihren Leib, als wollte sie das Ungeborene vor dem Grauen schützen, das von Felicitys Geschichte ausging.
»Tut mir leid, aber das ist … krank!«, stieß sie hervor. »Keine Frau bei klarem Verstand lässt ihre Kinder leiden oder sterben. Keine Mutter schaut seelenruhig zu, wie ihre Söhne vor ihren Augen ermordet werden, wenn sie gegen seine Peiniger vorgehen kann. Außerdem glaube ich nicht, dass Gott so etwas von uns verlangt. Er will etwas anderes.«
Felicity machte schmale Augen und blickte Tammy zweifelnd an. »Und Sie glauben zu wissen, was Gott von uns verlangt?«, fragte sie mit trügerisch sanfter Stimme.
»Er verlangt bestimmt nicht, dass wir unsere Kinder sterben lassen. Er überträgt uns die Aufgabe, Mütter und Beschützer derUnschuldigen zu sein. Ich glaube nicht, dass Gott ein Blutopfer verlangt.«
Felicity mied es, Tammy oder Maureen anzusehen, und widmete sich wieder dem scheußlichen Anblick Felicitas’ inmitten der Leichen ihrer Kinder. Als sie wieder zu sprechen begann, hatte ihre Stimme einen seltsamen Beiklang bekommen: Es war ein Zitat, das sie gebetsmühlenartig herunterspulte.
»Sie schickte ihre Söhne nicht fort, sie schickte sie zu Gott. Sie erkannte, dass ihr Leben nicht endete, sondern begann. Und sie schaute nicht nur zu, sie ermutigte ihre Kinder sogar. Ihr Mut trug reichere Frucht als ihr Schoß. Als sie ihre Kinder stark sah, war sie selbst stark, und bei jedem Sieg ihrer Kinder siegte auch sie.«
Tammy schien vor Zorn außer sich zu sein, und Maureen hatte es die Sprache verschlagen. Wollte diese junge Frau etwa behaupten, dass sie dieses Verhalten nicht nur akzeptabel, sondern sogar lobenswert fand? Immerhin lebte sie im einundzwanzigsten Jahrhundert. Es war unglaublich.
Bevor eine von ihnen Worte fand, verabschiedete sich Felicity. Im Gehen sagte sie: »In dieser Woche, am dreiundzwanzigsten Mai, feiern wir einen der größten Helden der Stadt. Es ist der Todestag unseres heiligen Bruders Girolamo Savonarola, und es wird ein glanzvolles Event. Wenn Sie Interesse haben – vorn in der Kirche liegen Flyer aus. Viel Spaß noch in Florenz.«
Felicity verschwand im geschlossenen Bereich der Kirche, der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich war.
Tammy lehnte sich an eine Kirchenbank, drückte beide Hände auf ihren Leib, atmete aus und sagte zu Maureen: »Ich glaube, ich muss gleich kotzen.«
Maureen nickte. Die Begegnung war auch für sie aufwühlend gewesen. »Das da«, sie zeigte auf das Bild der heiligen Felicitas, umgeben von den massakrierten Unschuldigen, »steht für alles, was falsch ist an religiösem Fanatismus. Es ist ein Paradebeispieldafür, wie die Lehren des Weges der Liebe missbraucht und verdorben wurden. Das da ist der Feind.«
Sie gingen zum Ausgang, beide bestrebt, die Kirche so rasch wie möglich zu verlassen und in die heilende Wärme des Florentiner Sonnenscheins zu kommen. Tammy blieb kurz an dem Tischchen neben dem Weihwasserbecken stehen, auf dem Mitteilungsblätter der Pfarrei neben einem Stapel Handzettel lagen, wie Felicity gesagt hatte. Tammy nahm eines der Flugblätter und schnappte erschrocken nach Luft.
»Nein, liebe Freundin«, sagte sie zu Maureen. »Ich glaube, das da war die Feindin.« Sie streckte die Hand in die Richtung aus, in die Felicity verschwunden war. Dann reichte sie Maureen den Flyer. Unter einer Beschreibung der Gedenkfeier für das Martyrium des heiligen Bruders Savonarola war ein Foto von Maureens letztem Buch, »Die Zeit kehrt wieder«. Daneben stand der kühne Befehl: »Stoppt die Blasphemie!«
Kapitel zweiundzwanzig
Florenz
1475
I n der Taverne in Ognissanti ging es an diesem Abend ruhiger zu als sonst. Es war einer jener Abende, an denen die milde Luft die Haut der Menschen streichelte wie eine Seidendecke. Für Florentiner grenzte es an ein Verbrechen, an einem solchen Abend nicht im Freien zu sein. Für Lorenzo jedoch, der jede Gelegenheit zu unbeschwerten Treffen mit Sandro nutzen musste, stand es außer Frage, dass sie sich in der Taverne trafen. Sandro war in Hochform. Er hatte einen aufregenden Tag in der bottega Andrea del Verrocchios und seiner
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