Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
Künstlerkollegen hinter sich.
Sandro Botticelli war in einer großartigen Schaffensphase: Je mehr er malte, desto mehr wollte er malen. Trotz seines Zynismus war Sandro ein tiefgläubiger Mensch. Er dankte Gott jeden Tag für die Begabung, die ihm geschenkt worden war, und für die Mittel, sie auszudrücken. Er dankte Gott auch für Lorenzo und die Medici und betete für sie, auf dass die Mission der Vereinigung von Kunst und Glauben fortbestehen möge.
Verrocchios Werkstatt war die Übungsstätte der Himmlischen, und Sandro fiel dabei die Aufgabe zu, Auge und Ohr der Medici zu sein. Regelmäßig berichtete er Lorenzo von den Fortschritten der Künstler, von denen manche bereits Rang und Namen im Orden hatten, während andere noch geprüft wurden.
»Domenico ist sicherlich der Begabteste. Abgesehen von mir, natürlich«, witzelte Sandro. Man konnte ihm manches nachsagen, aber auf keinen Fall Bescheidenheit. Doch er überschätzte sein Talent keineswegs: Im Hinblick auf Technik und Schaffenskraftkam ihm keiner gleich. Deshalb wusste Lorenzo, dass er jedem Wort Sandros über andere Künstler trauen konnte, die auf die Arbeit für den Orden vorbereitet wurden.
Gerade sprachen sie über Domenico Ghirlandaio, einen dunklen, sanften Familienvater, der aus einer begabten Florentiner Künstlerfamilie stammte.
»Seine Technik der Wandmalerei ist grandios. Die Fresken, an denen er im Auftrag der Familie deiner Mutter in Santa Maria Maggiore arbeitet, sind überwältigend. Du musst dir unbedingt die Zeit nehmen, ihn aufzusuchen. Ich hätte ihn gern als Modell, denn er hat das Gesicht eines Engels, aber er ist eitel und selbstverliebt, dieser Pfau. Doch alles in allem ist er erträglich – anders als dieser seltsame Vogel aus Vinci.«
»Leonardo?«
Sandro nickte und bedeutete dem Schankmädchen, frisches Bier zu bringen. »Leonardo. Bei ihm weiß ich nicht, woran ich bin, obwohl seine Skizzen bemerkenswert sind. Er besitzt eine unglaubliche technische Präzision. Ich weiß einfach noch nicht, wie ich ihn beschreiben soll. Er ist … anders. Er gehört nicht zu uns.«
»Du glaubst also nicht, dass er das Talent der Himmlischen besitzt?«
»Ich glaube nicht, dass er das Temperament der Himmlischen besitzt.«
»Du ja auch nicht. Meistens jedenfalls.«
»Ha, ha. Sehr lustig. Wenn du mir kein Bier ausgeben würdest, gäbe ich mich gar nicht mit dir ab. Leonardo ist anders als die anderen, auf jeden Fall anders als ich. Er ist Einzelgänger. Aber das an sich ist kein Verbrechen. Denk nur an Donatello – der war verrückt und Einzelgänger, und dennoch war er ein Himmlischer. Der Unterschied wird sichtbar, wenn man die Arbeitsweise beider vergleicht. Wenn Donatello vor einem Holz oder einem Stein stand, konnte man sehen, wie Gott ihn beseelt hat. Bei Fra Lippi ist es dasselbe. Gott führt ihm die Hand, wenn er arbeitet. Du kannst beinahe sehen, wie Gottes Kraft ausseinen Fingern strömt. Aber diese Kraft kenne ich ja selbst. Es ist eine Kraft, die Herz, Seele und Geist gleichermaßen erfasst und bewirkt, dass deine Werke gleichsam aus deinen Händen strömen.«
»Und bei Leonardo ist es nicht so?«
»Nein. Ich habe ihn beobachtet: Er arbeitet nur vom Hals aufwärts. Außerdem hat er eine sehr hohe Meinung von sich und will auf keinen Ratschlag hören.«
Lorenzo fragte sich ein wenig verärgert, ob Sandro das Talent Leonardos vielleicht deshalb so entschieden beiseitewischte, weil sie sich gestritten hatten oder weil er eifersüchtig war. »Andrea sagt, Leonardo zeichne die besten technischen Skizzen, die er je gesehen hat«, wandte er ein. »Wir brauchen solche Begabungen, Sandro. Wir müssen mit ihm arbeiten. Der Meister braucht Männer wie ihn für unser großes Ziel.«
»Ich kann und werde alles erschaffen, was Fra Francesco benötigt!«, fuhr Sandro den Freund an. »Da braucht es nicht die Dienste eines Menschen, der unseren Herrn Jesus nicht verehrt.«
»Was soll das denn heißen?«
»Ich hab’s dir doch gesagt: Leonardo ist keiner von uns. Er ist nicht mit dem Herzen dabei, wenn er den Auftrag für ein Bild bekommt, das unseren Herrn und unsere Herrin zeigt. Er stammt von Baptisten ab. Er glaubt, dass Johannes der Täufer der wahre Messias gewesen ist.«
»Das hat er aber nicht gesagt, als wir ihn vor seinem Eintritt in unsere Werkstatt befragt haben.«
»Ich sagte doch schon, dass er ein seltsamer Kauz ist. Aber er ist ganz bestimmt kein Dummkopf. Er weiß genau, dass sich ihm hier bessere Möglichkeiten
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