Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
Leonardo da Vinci war ein seltenes Talent, ein außerordentlicher Schöpfergeist. Lorenzo hegte große Hoffnungen, ihn in den Kreis der Eingeweihten einführen zu können. Und jedes Mal, wenn er Leonardo begegnete, war dieser höflich – ein beredter junger Mann von außerordentlicher Klugheit und Klarsichtigkeit. Von diesen unerwarteten Zweifeln zu hören, war beunruhigend. Er würde mit Andrea und Fra Francesco darüber sprechen müssen.
»Ach ja, da ist noch etwas, das ich noch nicht erwähnt habe. Leonardo hasst Frauen.«
»Was meinst du damit?«
»Er verachtet das weibliche Geschlecht. Kann den Anblick von Frauen nicht ertragen. Hat mir gesagt, er hält sie alle für Dirnen und Betrügerinnen. Er spricht wie ein Mann, der verlassen wurde, als er noch in der Wiege lag, und vielleicht war es ja auch so. Er hat keine Mutterliebe gekannt. Das sieht man daran, dass es ihm nicht gelingt, eine Muttergottes mit Kind zu malen. Er versteht deren Bindung nicht. Und er will nie im Zimmer bleiben, wenn eine Frau Modell sitzt. Ich könnte mir vorstellen, dass die Lehren des Ordens ihm nicht besonders zusagen, wenn er erst einmal so weit ist, Unserer Lieben Frau die gehörige Hingabe zu bezeugen. Vielleicht könnte man ein paar anständige Bilder von Johannes dem Täufer aus ihm herausschlagen, aber ich glaube, für unsere Madonnen wäre er nicht der beste Mann.«
Von Leonardo da Vinci ging eine beherrschte und doch spürbare Energie aus. Nachdem Lorenzo mehrere Stunden mit ihm in der Werkstatt verbracht hatte, hegte er keinen Zweifel mehr daran,dass dieser junge Mann zu den Himmlischen gehörte. Seine Zeichnungen zeugten von der unbedingten Präzision, mit der er arbeitete. Und wie die anderen Himmlischen, die Lorenzo und sein Großvater entdeckt hatten, besaß auch Leonardo dieses unbestimmbare Charisma, das allen göttlich begabten Künstlern eigen war. Oberflächlich betrachtet gab es nichts an diesem Mann, das nicht zu den kühnsten Erwartungen im Hinblick auf sein künstlerisches Talent berechtigte. Und er behandelte Lorenzo und den Meister mit ausgesuchter Höflichkeit. Obwohl Sandro und die anderen Künstler geklagt hatten, Leonardo zeichne sich durch eine offen zur Schau getragene Arroganz aus, hatte Lorenzo noch nichts davon bemerkt.
»Ihr ehrt mich, Magnifico«, sagte Leonardo mit einer warmen Stimme, deren Akzent seine Herkunft aus der südlichen Toskana verriet. »Ich wünsche so zu malen, wie es Euch gefällt.«
Lorenzo dankte Leonardo, während sie im Beisein des Meisters seine Zeichnungen studierten. Der berüchtigte Entwurf für die »Anbetung der Könige«, über den Sandro sich beklagt hatte, stand im Zentrum ihres Gesprächs. Es war eine flüchtige, zugleich aber großartige Skizze. Der Bildraum war meisterhaft gestaltet, und man konnte eine sorgfältig konstruierte Geschichte erkennen, die sich durch das Bild zog. Ein schönes und kraftvolles Werk, und doch verstand Lorenzo bei näherer Betrachtung, was Sandro damit gemeint hatte, es werde »auf ewig unvollendet« bleiben.
»Es gefällt Euch nicht, Magnifico?«
Leonardo da Vinci wirkte ehrlich besorgt. Lorenzo konnte nichts von dem übergroßen Stolz entdecken, den die anderen Künstler dem jungen Mann vorwarfen, noch schien Leonardo für seinen Mäzen den Unschuldigen zu spielen. Doch an diesem Künstler war etwas, das Lorenzo bei keinem anderen der Himmlischen erlebt hatte. Selbst mit den Launischsten unter ihnen konnte er sprechen. Das lag an der Leidenschaft für die Kunst und die Beseelung ihrer Werke durch das Göttliche, diesie alle teilten. Diese Leidenschaft konnte er in Leonardo nicht erkennen, so talentiert der junge Mann auch war.
Lorenzo starrte auf die »Anbetung der Könige« und zwang Geist und Seele zur Zusammenarbeit, um herauszufinden, was genau diesem Entwurf fehlte. Wie Sandro schon erklärt hatte, war kein Verständnis für die Beziehung zwischen der Gottesmutter und ihrem Kind zu erkennen. Aber noch etwas beunruhigte Lorenzo, doch er hatte Mühe, es zu fassen. Leonardo wartete gespannt auf Antwort; es war grausam, einen Künstler in dem Glauben zu lassen, sein Werk werde nicht geschätzt.
»Ehrlich gesagt, Leonardo, mag ich dein Bild sehr. Dieser Hintergrund mit der Treppe, die hier und da verstreuten Pferde, die für die Perspektive sorgen, die Könige, die zu beiden Seiten im Vordergrund stehen und knien … das alles ist überwältigend, wirklich großartig. Es ist nur …« Lorenzo fuhr in tiefem Nachdenken mit den
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