Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
zwischen Clarice de’ Medici und Angelo Poliziano dauerte an. Er wurde geschürt von Lorenzos Ältestem, Piero, der seinen Lehrer nicht leiden konnte. Angelo war häufig ungeduldig und ermahnte ihn, sich mehr anzustrengen. Piero, der von seiner Mutter verhätschelt wurde, war faul. Er hatte wenig Interesse am Lernen; deshalb beschwerte er sich bei seiner Mutter über wirkliche oder eingebildete Kränkungen, um sich vor den Schulstunden bei Angelo zu drücken.
Lorenzo, der genug hatte von Clarices Genörgel, fand einen Kompromiss. Er versetzte Angelo in ein anderes seiner Landhäuser, das Clarice selten aufsuchte, und befreite ihn damit von der Last, Piero unterrichten zu müssen. Angelo war erleichtert, denn die Verantwortung für Pieros Bildung war eine heikle Aufgabe gewesen. Doch obwohl Lorenzo sich der Mängel seines Ältesten bewusst war, war Piero dennoch sein Erbe. Und Angelo fehlte als Lehrer für die anderen Kinder.
Doch lange musste Lorenzo nicht mehr zwischen seinem Freund Angelo und seiner Ehefrau vermitteln. Zu Anfang des nächsten Jahres erkrankte Clarice. Sie wurde rasch schwächer, spuckte bald Blut und starb schließlich im Alter von vierunddreißig Jahren. Lorenzo war auf Reisen in der westlichen Toskana, als sie ihren letzten Atemzug tat, und blieb der Stadt fern, als Clarice begraben wurde. Doch trotz ihrer traurigen Ehejahre schrieb er in sein Tagebuch, dass ihr Tod ihn zutiefst unglücklich mache. Denn wenn sie ihm auch keine passende Ehefrauund Gefährtin gewesen war, so war sie doch seinen Kindern eine gute Mutter gewesen. Deshalb trauerte er um sie und fühlte sich schuldig, weil sie an seiner Seite nicht glücklich gewesen war.
Lorenzo holte Angelo in die Villa in Careggi zurück, damit er die Erziehung Giovannis und seines Halbbruders Giulio weiterführte. Nun, da die Knaben die besten Lehrer der Welt hatten – Angelo, Ficino und den Meister –, erhielten sie genau die Bildung, die Lorenzo am Herzen lag. Und die »Zwillinge«, wie Lorenzo sie stets nannte, waren nicht allein. Er hatte einen dreizehnjährigen Jungen adoptiert, einen ganz besonderen Himmlischen, den der Orden von Geburt an beobachtet hatte. Michelangelo Buonarroti war zu einem außergewöhnlichen jungen Talent herangewachsen, und es war beschlossene Sache, dass er wie ein Medici aufgezogen werden sollte.
Michelangelo kam nur zögernd in Lorenzos Familie, da er sehr schüchtern war. Die lärmende Meute hieß ihn jedoch herzlich willkommen, und er lernte rasch, sich einzufügen. Die älteren Mädchen beteten ihn an und bedienten ihn, während die jüngeren ihn plagten, er solle ihnen Pferde und Blumen malen. Wenn die Familie sich zu Tisch setzte, saß Michelangelo zur Rechten Lorenzos. Von dem Moment an, als er durch die Tür des Hauses getreten war, wurde er wie ein Sohn behandelt.
»Er ist ein erstaunlicher Schüler«, teilte Angelo Lorenzo mit. »In jedem Fach. Ficino arbeitet mit ihm das Hebräische und das Alte Testament durch, und er wird immer besser. Sein sprachliches Können ist hervorragend, und er kann eine Geschichte, die ihm nur ein einziges Mal erzählt worden ist, fast wortgetreu wiedergeben. Außerdem ist der Meister begeistert von Michelangelos spirituellem Verständnis. Er sagt, er muss mit einem angeborenen Wissen für die Lehren auf die Welt gekommen sein. Es ist, als wäre er wahrhaftig die Inkarnation des Erzengels Michael.«
»Vielleicht ist er das«, sagte Lorenzo. Es war nicht scherzhaft gemeint.
Michelangelo hielt sich im Garten auf und zeichnete, als Lorenzo ihn aufsuchte. Er blieb kurz hinter einer Hecke stehen und beobachtete den Halbwüchsigen, der eine Statuette in die Höhe hielt. Es schien das kleine Standbild einer Heiligen zu sein, ungefähr einen Fuß hoch und offenbar uralt. Michelangelo hielt die Statuette ins Licht, drehte sie, stellte sie wieder hin und zeichnete. Dann nahm er das Figürchen erneut hoch, betrachtete eingehend dessen Antlitz, und wandte sich wieder seiner Zeichnung zu.
»Wer ist denn deine Muse, mein Junge?«, fragte Lorenzo und deutete auf die Statuette.
Überrascht sah Michelangelo auf. »Guten Morgen, Magnifico. Das ist eine Statue der heiligen Modesta. In meiner Familie wird sie wie ein Schatz verehrt, denn sie gehörte der berühmten Contessa Mathilde von Tuszien.«
Lorenzo war beeindruckt. »Darf ich sie mir mal ansehen?«
»Gewiss.«
Lorenzo nahm die Statuette in die Hand und betrachtete sie. Jetzt verstand er, warum Michelangelo von ihrem Antlitz so
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