Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
gebannt war: Es war wunderschön. Die Züge waren fein und lieblich, drückten Weisheit und zugleich Melancholie aus.
»Was zeichnest du da?«
»Eine Pietà. Wir haben den Auftrag von Verrocchio bekommen. Ich wünschte nur, ich könnte eine erschaffen, die nicht traditionell ist, sondern die Lehren des Ordens versinnbildlicht. Seht einmal …«
Michelangelo zeigte Lorenzo seine Zeichnung. Es war eine Maria, die er nach dem lieblichen Gesicht der Modesta gezeichnet hatte. Sie saß auf einem Sockel, eine klassische Pietà mit Jesus auf ihrem Schoß. Doch etwas war neu: eine Erhabenheit und Traurigkeit, wie Lorenzo sie nie zuvor bei einer Pietà gesehen hatte.
»Unglaublich, mein Sohn. Und ihr Gesicht ist vollkommen. Aber … ist sie nicht ein bisschen zu jung, um die Mutter Jesu zu sein?«
»Das ist wahr, Magnifico. Aber sie ist ja auch nicht die Gottesmutter, sondern Maria Magdalena. Ich habe eine Pietà gezeichnet, die unsere Königin der Barmherzigkeit in Trauer über ihren verlorenen Gefährten zeigt. Ihr Schmerz ist unser Schmerz. Es ist der Schmerz der menschlichen Liebe. Ich möchte dieses Gefühl einfangen, indem ich die Geschichte anders erzähle. Eines Tages möchte ich diese Pietà in Stein meißeln und zum Leben erwecken.«
Ein Licht leuchtete in seinen Augen, als er diese Worte sprach – eine Inspiration, die schon bei einem Erwachsenen mit lebenslanger Bildung und Erfahrung außergewöhnlich gewesen wäre. Aus dem Munde eines Dreizehnjährigen war sie unfassbar und göttlich.
Lorenzo antwortete schlicht: »Ich danke dir, Michelangelo. Ich danke dir.«
Kapitel neunundzwanzig
Florenz
Gegenwart
D e r Mond beschien die roten Ziegelsteine der Domkuppel. In dieser Nacht schien die Luft besonders seidig zu sein. Petra und Peter nippten an ihrem Brunello, während sie sich leise unterhielten.
»Sind Sie immer noch Priester, Peter?«
Erstaunt über die direkte Frage zögerte Peter; dann stellte er sein Glas auf den Tisch. »Nein. Ich bin kein Priester mehr. Ich glaube nicht mehr an die Dinge, für die ich einst das Gelübde abgelegt habe. Obwohl ich als Christ gläubiger bin als je zuvor, bin ich kein Katholik mehr. Zumindest glaube ich nicht mehr blind an die Kirche. Ich habe zu viele Fragen an sie.«
»Haben Sie jemals an Ihrem Gelübde gezweifelt, als Sie noch Priester waren?«
»Sie meinen, ob ich mich einsam gefühlt habe? Als ob ich etwas verpassen würde, weil ich keine Beziehung hatte? Wenn ich ehrlich sein soll, ja. Ich habe mich einsam gefühlt. Aber ich habe mich geweigert, darüber nachzudenken. Ich habe es als Werk des Teufels betrachtet, der mich in Zweifel stürzen wollte.«
»Sind Sie jemals in Versuchung geraten?«
»Nein.« Peter schüttelte mit Nachdruck den Kopf. Über Mangel an Gelegenheit hatte er sich allerdings nicht beklagen können. Mit seinem »dunklen irischen« Aussehen – dunkles Haar und blaue Augen – war er ein sehr attraktiver Mann und der Schwarm seiner Schülerinnen. Wenn man sich schon mit Latein und Griechisch herumschlagen musste, dann wenigstens in Father PetersKlasse. »Ich habe nie daran gedacht. Ich habe viel Selbstdisziplin, und wenn ich mich einer Sache widme, dann mit Haut und Haar.«
»Eine lobenswerte Eigenschaft«, bemerkte Petra. »Aber nachdem Sie jetzt kein Priester mehr sind …«
»Gerate ich in Versuchung?« Seine Stimme war sanft und bedeutungsvoll.
»Ja.« Auch Petras Stimme hatte sich verändert.
Peter nickte und schaute sie über den Rand seines Glases an. »Sie kennen die Antwort bereits.«
Petras große braune Augen strahlten plötzlich hell. »Ich wusste es schon, bevor Sie … bevor du gekommen bist, und meine Ahnung wurde in dem Augenblick bestätigt, als du durch die Tür kamst. Wir sind beide Lehrer gewesen und wurden gezwungen, unseren Beruf aufzugeben, damit wir einander durch den Weg der Liebe finden.« Sie lachte. »Außerdem ist Petra die weibliche Form von Peter.«
Er lächelte sie an. »Ja. Du bist mein weibliches Gegenstück.«
Sie streckte den Arm aus und nahm seine Hand. »Wir müssen nichts überstürzen, Peter. Das alles ist neu für dich, und ich weiß, dass du Zweifel hast.«
»Habe ich nicht.« Seine Sicherheit überraschte sie. »Überhaupt nicht. Das Evangelium von Arques und das Buch der Liebe haben mir gezeigt, dass es einen anderen Weg gibt, und ich weiß, dass es dieser Weg ist, den Jesus in Wahrheit gelehrt hat. Es ist der Weg der Liebe und der Grund für unser Dasein auf Erden. Und ich muss auf
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