Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
die beste Gesellschaft. Zwar wären die jungen Burschen gern schneller geritten, doch sie verehrten Cosimo und den Meister viel zu sehr, um zur Eile zu drängen.
Das Datum war nicht zufällig gewählt, wie alles, was mit dem Orden zu tun hatte. Morgen, am zweiundzwanzigsten Juli, war der Feiertag von Maria Magdalena, und die offizielle Bruderschaft, die ihren Namen trug, würde diesen Tag festlich begehen – eine Prozession zu Ehren jener Frau sehen, die Sandro und Lorenzo als spirituelle Führerin verehrten. Nach dem Festtag sollte eineWoche intensiven Unterrichts beim Meister erfolgen, unter Zuhilfenahme der heiligsten Reliquien des Ordens, die den Grundstein von Santo Sepolcro bildeten.
Aber das war Zukunftsmusik. Heute sollten Lorenzo und Sandro zunächst den Hausmaler des Ordens kennenlernen, den großen Piero della Francesca. Aus diesem Grunde war Sandro ehrfürchtig und dankbar zugleich. Piero della Francesca war der größte aller Himmlischen auf Erden; er war als Knabe von Fra Francesco selbst entdeckt worden, und die Magi hatten seine Geburt in dem heiligen Städtchen Santo Sepolcro geweissagt. Auf dem Gebiet der Freskenmalerei konnte es niemand mit Piero aufnehmen. Zurzeit vollendete er einen Freskenzyklus in der alten Kirche San Francesco, dem Sitz des Ordens in Arezzo. Die großartigen Fresken, die hinter dem Altar des Gotteshauses vom Boden bis zur Decke reichten, stellten die Legende des Wahren Kreuzes dar, darunter die Begegnung Salomons mit der Königin von Saba. Für die Ordensmitglieder war diese die heiligste aller Legenden. Die Vereinigung Salomons und Makedas hatte einige der größten Lehren der Menschheitsgeschichte hervorgebracht, Lehren von Liebe und Weisheit, die eine tief greifende Wandlung der Welt bewirken konnten.
Die heilige Gepflogenheit des Hieros gamos – die Vereinigung, bei der Gott im Brautgemach zugegen ist, wenn Mann und Frau in Vertrauen und Bewusstheit zueinander finden – wurde auf die Vereinigung von Salomon und der Königin von Saba zurückgeführt. Auch das Hohelied aus dem Alten Testament, das schönste Gedicht lebensbejahender Leidenschaft und heiliger Einheit, wurde Salomon zugeschrieben.
Der Meister wandte sich an die beiden Freunde, als sie die romanische Kirche betraten, die im dreizehnten Jahrhundert zu Ehren Franz von Assisis erbaut worden war.
»Obwohl wir die Prophezeiung des Dichterfürsten mittlerweile als christliche Idee begreifen, war es nicht immer so. Denn die Prophezeiungen unseres Ordens sind uralt und existieren außerhalbder Zeit. Sie stammen von Gott und beziehen sich auf Männer und Frauen sämtlicher Zeitalter, die auf die Erde kommen und Gottes Werk vollbringen – ob Juden oder Christen, Muslime, Hindus oder Heiden. Das ist nicht von Belang.
Salomon und David waren beide Dichterfürsten. Bedenkt dies einen Augenblick: David schrieb Psalmen, sein Sohn Salomon schrieb Hunderte von Gedichten, darunter unser erhabenes Hohelied, und beide veränderten die Welt auf ihre eigene Weise. Jesus war in der Tat ein Dichterfürst, aber beileibe nicht der erste, sondern nur einer in einer langen Reihe von Dichterfürsten, gewiss der außergewöhnlichste, aber weder der erste noch der einzige – oder der letzte.«
Der Meister lächelte Lorenzo aufmunternd an. Dann bedeutete er Lorenzo und Sandro, stehen zu bleiben, denn nun befanden sie sich in der Mitte des Kirchenschiffes. »Schaut nach vorn, zum Altar«, fuhr der Meister fort. »Bleibt kurz stehen, um euer Augenmerk auf etwas sehr Wichtiges zu richten, das unser Piero geschaffen hat. Bevor ihr die prächtigen Fresken bewundert, schaut auf beide Seiten des Altars.«
Zu beiden Seiten des gewaltigen Altarraums ragten hohe, schmale Säulen empor. Auf ihnen waren Jesus und Maria Magdalena abgebildet – Jesus auf der linken Säule, Magdalena auf der rechten. Sie waren einander ebenbürtig dargestellt, doch unübersehbar auch als Paar.
»Das Bildnis der wahren Liebenden, die vor Gott gleich sind«, sagte eine leise Männerstimme hinter ihnen.
Piero della Francesca, den Pinsel in der Hand, die Kleidung voller Farbkleckse, lächelte seinen Besuchern freundlich zu. »Nicht ich habe die ursprünglichen Porträts unseres Herrn und unserer Herrin gemalt – das war ein anderer, aus Arezzo gebürtig, mein Vorgänger hier. Man nannte ihn Luca Spinello. Leider ist sein Werk im Verfall begriffen, aber ich habe es aufgefrischt. Ich kann nur hoffen, dass ich seinem hohen Anspruch genüge. Er war ein Genie, er
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