Das magische Land 2 - Das Amulett der Schlange
Gereints Hilfe hätte sie es vielleicht geschafft. Aber auch er war von ihr abgeschottet. Sein tiefstes Inneres war noch da, reglos wie ein Stein, schwer und undurchdringlich.
Der König würde die Kuppel aus makellosem Glas zerstören, seine Schlangenmagie würde darunter hindurchgleiten und sie zerbrechen wie eine Eierschale. Und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Sie konnte nicht einmal die Priesterinnen warnen.
»Comtesse?«
Averil raffte ihre gesamte Disziplin zusammen, um ihren Zorn zu unterdrücken und die Hofdame zu begrüßen, die sich vor ihr verbeugte. Es war schwer; sie hatte ein merkwürdiges Gefühl, als würde etwas sie daran hindern, sich zu zügeln.
Sie schob den Gedanken beiseite. Sie war erschöpft, sie war enttäuscht, sie wurde von allen Seiten behindert. Kein Wunder, dass sie zornig war. »Eure Hoheit«, sagte die Hofdame, »Ihr habt eine Nachricht erhalten. Der Junge, der sie gebracht hat, wurde gebeten, auf Eure Antwort zu warten.« Averil nahm das gefaltete Pergament aus Madame Grisels Händen entgegen und hätte es fast fallen gelassen. Es knisterte vor Magie, eine Signatur, die so deutlich war wie mit Tinte geschrieben.
Das Pergament hatte etwas seltsam Vertrautes, sie konnte sich jedoch nicht entsinnen, wo sie so etwas schon einmal gesehen hatte. Auf der Insel vielleicht — oder in den Wildländern, dachte sie mit leichtem Schauder. Es hatte einen unverkennbaren Hauch von wilder Magie an sich; aber davon gab es auch eine Menge in Prydain. »Wer hat das geschickt?«, fragte sie.
»Der Junge gehört zum Meistermagier Ihrer Majestät, Comtesse«, sagte Grisel. »Der Myrddin wird er genannt.«
Averil war unwillkürlich fasziniert. »Tatsächlich? Das klingt nicht wie ein Titel von einem der Orden.«
»Das ist richtig«, sagte die Frau. Sie machte einen Hofknicks und zog sich zurück, bevor Averil sie zurückrufen konnte.
Averil öffnete den Mund, um es dennoch zu versuchen, zuckte dann mit den Schultern und Heß es sein. Sie setzte sich auf die Bettkante und betrachtete den Brief in ihrer Hand. Das Siegel sah aus wie ein Blutstropfen, glitzernd und lebendig, mit dem Bild eines fliegenden Falken geprägt.
Sie zögerte, bevor sie das Siegel brach, aber der magische Sturm, den sie befürchtet hatte, blieb aus. Der Brief war in einer altmodischen Schrift verfasst und ließ auf einen geübten Schreiber schließen. Die Worte waren kurz und prägnant.
An Eure Majestät von Quitaine, die bei bester Gesundheit sein möge: Uns kamen gewisse Schwierigkeiten und Verstimmungen zu Ohren. Zwar mag es dafür keine Lösung geben, aber eine Zerstreuung könnte Euch vielleicht erfreuen. Der Junge wird Euch führen, wenn Ihr bereit seid, ihm zu folgen. Averil strich mit dem Finger über die geschriebenen Zeilen. Die Magie darin prickelte auf ihrer Haut. Wilde Magie lag darin, daran gab es keinen Zweifel. Sie hatte noch nie etwas von einem Myrddin gehört. Wahrscheinlich war das Ganze eine Lüge oder ein Hinterhalt.
Sie spürte einen Lufthauch. Als sie aufschaute, sah sie, dass der Türrahmen von zwei breiten Schultern unter einem blauen Umhang ausgefüllt wurde. Türen mussten größer sein, wo Gereint sich aufhielt, dachte sie abwesend, oder er musste aufhören zu wachsen wie ein gut gewässerter Baum. Ein Teil von ihr wollte ihn dorthin zurückschicken, wo er herkam. Der andere Teil war weitaus erleichterter als ihr lieb war.
Ihre Begrüßung war nicht gerade freundlich, aber sie schickte ihn auch nicht fort. »Messire. Was führt Euch hierher?«
Er machte ein finsteres Gesicht. Er war ebenso verwirrt wie sie, und seine Stimmung war keineswegs besser. »Ihr bereitet mir Kopfschmerzen. Ihr müsst damit aufhören.«
»Du hättest nicht den ganzen Weg durch den Regen kommen müssen, um mir das zu sagen«, erwiderte sie. »Haben deine Aufpasser dich gehen lassen? Oder bist du davongelaufen?«
Seine Kiefermuskeln spannten sich. »Ich will nicht, dass wir kämpfen. Aber Ihr seid unvernünftig. Ich weiß, Ihr wurdet auf der Insel erzogen und dass sie Euer wahres Zuhause ist, aber …«
»Fontevrai ist mein Zuhause«, sagte sie. »Die Insel ist der Quell jeglicher Magie in diesem Teil der Welt. Hat noch niemand darüber nachgedacht, was passieren wird, wenn sie fällt?«
»Sie wird nicht fallen«, sagte er.
»Die Rose wurde schon gestürzt.«
Das ließ ihn kurz innehalten. »Der Rosenorden war in Lys, im Kernland des Königs, ohne Hilfe der wilden Magie. Die Insel Hegt mitten im Meer.«
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