Das Magische Messer
legend, und allmählich lichtete sich der Wald, und der Boden wurde steiniger. Lyra befragte wieder das Alethiometer. Weiter, sagte es, die Richtung stimmt. Gegen Mittag kamen sie zu einem Dorf, das nicht von Gespenstern verseucht war. Auf den Hängen weideten Ziegen, ein kleiner Hain von Zitronen bäumen sorgte für Schatten, und als die Kinder, die im Fluss spielten, das Mädchen in den zerrissenen Kleidern, den verwilderten, bleichen Jungen in dem blutbefleckten Hemd und den eleganten Windhund neben ihm sahen, liefen sie schrei end zu ihren Müttern.
Die Erwachsenen waren misstrauisch, aber bereit, ihnen für eine von Lyras Goldmünzen etwas Brot, Käse und Obst zu verkaufen. Die Hexen blieben außer Sicht, obwohl Will und Lyra wussten, dass sie in einer Sekunde da sein würden, wenn Gefahr drohte. Von einer alten Frau kaufte Lyra nach längerem Feilschen noch zwei Flaschen aus Ziegenleder und ein Hemd aus feinem Leinen, und Will zog erleichtert sein schmutziges T-Shirt aus, wusch sich in dem kalten Fluss und legte sich zum Trocknen in die heiße Sonne.
Erfrischt zogen sie weiter. Die Gegend wurde jetzt immer rauer. Wenn sie Rast machten, mussten sie sich in Ermangelung Schatten spendender Bäume in den Schatten von Felsen legen, und sie spürten die Hitze des Bodens durch die Sohlen ihrer Schuhe. Die Sonne blendete sie erbarmungslos. Je höher sie kamen, desto langsamer wurden sie, und als die Sonne die Berge im Westen berührte und sie unter sich ein kleines Tal sahen, beschlossen sie, hier Halt zu machen.
Sie kletterten den Hang hinunter, stolperten mehr als einmal und mussten sich dann den Weg durch ein dichtes Gestrüpp von Alpenrosen bahnen, durch dunkel glänzende Blätter und karmesinrote Blütendolden, die von Bienen umschwärmt wurden. Dann kamen sie zu einer in abendlichem Schatten daliegenden Wiese am Rand eines Flusses. Das Gras war kniehoch, und überall blühten Kornblumen, Enzian und Fingerkraut.
Will kniete sich ans Ufer und trank lange. Dann legte er sich ins Gras. Er war zu müde, um wach zu bleiben, konnte aber auch nicht einschlafen. In seinem Kopf drehte sich alles, über allem hing ein merkwürdiger Schleier, und seine Hand pochte schmerzhaft.
Noch schlimmer war, dass sie wieder angefangen hatte zu bluten.
Serafina sah sie sich an, legte wieder Kräuter auf die Wunde und band die Seide noch fester darum, doch diesmal sah sie besorgt aus. Will wollte sie nicht fragen, wozu auch? Ihm war klar, dass der Zauber nicht gewirkt hatte, und er sah, dass auch sie es wusste.
Es wurde dunkel, und er hörte, wie sich Lyra neben ihn legte, und kurz darauf vernahm er ein leises Schnurren. Ihr Dæmon döste in Gestalt einer Katze mit gefalteten Pfoten nur einen halben Meter von ihm entfernt.
»Pantalaimon?«, flüsterte Will.
Die Augen des Dæmons gingen auf. Lyra rührte sich nicht.
»Ja?«, flüsterte Pantalaimon.
»Pan, muss ich sterben?«
»Die Hexen werden das nicht zulassen, und Lyra auch nicht.«
»Aber der Zauber hat nicht gewirkt. Ich verliere weiter Blut, und viel darf ich nicht mehr verlieren, ehe es zu spät ist. Und jetzt blutet es wieder und hört nicht auf. Ich habe Angst …«
»Lyra glaubt, du hast keine.«
»Das glaubt sie?«
»Du bist für sie der tapferste Mensch, den sie je kannte, so mutig wie Iorek Byrnison.«
»Dann darf ich mir meine Angst nicht anmerken lassen.« Will schwieg eine Weile, dann sagte er: »Ich glaube, Lyra ist viel mutiger als ich. Ich glaube, sie ist der beste Freund, den ich je hatte.«
»Du bist auch ihr bester Freund«, flüsterte der Dæmon.
Will schloss die Augen.
Lyra lag bewegungslos da, aber ihre Augen starrten weit geöffnet in die Dunkelheit, und ihr Herz schlug heftig.
Als Will das nächste Mal zu sich kam, war es vollkommen dunkel, und seine Hand schmerzte mehr denn je. Er setzte sich vorsichtig auf und sah ganz in der Nähe ein Feuer brennen, an dem Lyra mit einem gegabelten Stock versuchte, Brot zu rösten. An einem Spieß brieten außerdem ein paar Vögel, und als Will aufstand, um sich näher ans Feuer zu setzen, kam Serafina heruntergeflogen.
»Will«, sagte sie, »bevor du etwas anderes isst, iss diese Blätter.«
Sie gab ihm eine Hand voll weicher, bitter schmeckender Blätter, die an Salbei erinnerten, und er kaute sie schweigend und zwang sich dann, sie zu schlucken. In ihm zog sich alles zusammen, aber er fühlte sich wacher, ihm war weniger kalt, und es ging ihm besser.
Sie aßen die gebratenen Vögel,
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