Das Magische Messer
stießen ihre Flügel nicht aneinander, sondern durchdrangen sich, wie Licht durch Licht dringt, bis die schlafenden Kinder auf dem Gras von einem hellen Leuchten um geben waren.
Dann stiegen die Beobachter nacheinander Flammen gleich zum Himmel empor, und während sie das taten, wur den sie immer größer, bis sie riesig waren; doch da waren sie bereits weit weg und flogen wie Sternschnuppen Richtung Norden.
Serafina und Ruta Skadi sprangen auf ihre Kiefernzweige und folgten ihnen hinauf, doch waren sie schon bald weit zu rückgefallen.
»Waren sie wie die Wesen, die Ihr gesehen habt, Ruta Skadi?«, fragte Serafina, als sie auf halber Höhe langsamer wurden und zusahen, wie die hellen Flammen kleiner werdend dem Horizont zustrebten.
»Ich glaube, diese hier waren größer, aber von derselben Art. Habt Ihr gesehen, dass sie nicht aus Fleisch und Blut bestehen? Sie sind nur Licht, und ihre Sinnesempfindungen müssen von unseren völlig verschieden sein … Ich verlasse Euch jetzt, Serafina Pekkala, um die Hexen im Norden unserer Welt zusammenzurufen. Wenn wir uns wieder begegnen, wird Krieg sein. Lebt wohl, meine Liebe …«
Sie umarmten sich in der Luft, dann drehte Ruta Skadi und flog südwärts.
Serafina sah ihr nach, dann wandte sie sich wieder um, um in der Ferne die schimmernden Engel verschwinden zu sehen. Sie empfand nur Mitleid für diese Wesen. Wie sehr sie vermissen mussten, dass sie nie die Erde unter ihren Füßen spürten oder den Wind in den Haaren oder das Kribbeln des Sternenlichts auf der bloßen Haut! Sie zog ein kleines Ästchen aus dem Kiefernzweig, auf dem sie flog, und sog gierig und genießerisch den Geruch des würzigen Harzes ein. Dann flog sie langsam nach unten, um sich zu den Schlafenden auf dem Gras zu gesellen.
Die Alamoschlucht
Lee Scoresby sah auf das friedlich daliegende Meer zu seiner Linken und die grüne Küste auf der rechten Seite und hielt mit der Hand über den Augen nach Spuren menschlichen Lebens Ausschau. Seit ihrem Aufbruch vom Jenissei waren ein Tag und eine Nacht vergangen.
»Das ist also eine neue Welt?«, fragte er.
»Neu für die, die nicht in ihr geboren wurden«, erwiderte Stanislaus Grumman. »Ansonsten so alt wie Ihre oder meine Welt. Was Asriel getan hat, Mr. Scoresby, hat den gesamten Erdkreis stärker erschüttert als alles zuvor. Diese Durchgänge und Fenster, von denen ich sprach – sie führen jetzt zu ganz anderen Orten. Es ist schwer, sich zurechtzufinden, aber der Wind steht günstig.«
»Neu oder alt, die Welt da unten sieht jedenfalls seltsam aus«, meinte Lee.
Stanislaus Grumman nickte. »Eine seltsame Welt, ja, obwohl es zweifellos Menschen gibt, die hier zu Hause sind.«
»Sie sieht unbewohnt aus«, sagte Lee.
»Das ist sie nicht. Jenseits dieser Landzunge kommt eine Stadt, die einst reich und mächtig war. Bis heute wohnen hier die Nachkommen der Kaufleute und Adligen, die sie erbaut haben, obwohl sie in den vergangenen dreihundert Jahren eine harte Zeit durchgemacht hat …«
Der Ballon trieb weiter, und wenig später sah Lee zuerst einen Leuchtturm, dann einen gebogenen Wellenbrecher und dann die Türme, Kuppeln und rotbraunen Dächer einer schönen Stadt um einen Hafen, mit einem stattlichen Gebäude ähnlich einem Opernhaus inmitten eines üppigen Gartens, mit breiten Boulevards und eleganten Hotels und mit engen Gassen und von blühenden Bäumen überschatteten Balkonen.
Grumman hatte Recht, die Stadt war bewohnt. Doch als sie näher trieben, sah Lee zu seiner Überraschung, dass die Bewohner Kinder waren. Kein einziger Erwachsener war zu sehen. Die Kinder spielten am Strand, rannten in Cafes hinein und wieder heraus, aßen und tranken oder kamen mit gefüllten Taschen aus Häusern und Läden. An einer anderen Stelle prügelte sich eine Gruppe von Jungen; ein rothaariges Mädchen feuerte sie an, und ein kleiner Junge warf mit Steinen die Fenster eines Gebäudes in der Nähe ein. Es war wie ein Spielplatz von der Größe einer Stadt ohne einen Lehrer, wie eine Welt der Kinder.
Doch es waren nicht nur Kinder in der Stadt. Lee rieb sich erstaunt die Augen, als er sie zuerst sah, aber es konnte kein Zweifel sein, er sah – Säulen aus Dunst oder etwas noch Feinerem, eine Verdickung der Luft … Und was immer es war, die Stadt war voll davon. Die Dunstschleier trieben über die Boulevards, drangen in Häuser ein, standen in dicken Trauben auf Plätzen und Höfen. Und die Kinder bewegten sich unter ihnen, ohne sie zu
Weitere Kostenlose Bücher