Das Magische Messer
sehen.
Allerdings nicht ohne gesehen zu werden. Je weiter Lee und sein Begleiter über die Stadt trieben, desto eingehender konnte Lee das Verhalten der eigenartigen Schemen studieren. Es war deutlich, dass sie sich für ganz bestimmte Kinder interessierten und ihnen überallhin folgten, ältere Kinder, Kinder, die, soweit Lee es durch sein Fernrohr sehen konnte, bald junge Erwachsene sein würden. Ein Junge, hochgeschossen und dünn, mit einem wirren Schöpf schwarzer Haare, war so dick von den durchscheinenden Wesen umgeben, dass seine Umrisse in der Luft zu verschwimmen schienen. Sie umschwirrten ihn wie Fliegen das Fleisch, ohne dass er es bemerkte, obwohl er sich von Zeit zu Zeit mit der Hand über die Augen fuhr oder den Kopf schüttelte, wie um deutlicher sehen zu können.
»Was sind denn das für Wesen?«, fragte Lee.
»Die Menschen hier nennen sie Gespenster.«
»Und was tun sie?«
»Haben Sie je von Vampiren gehört?«
»Ja, in Geschichten.«
»Während die Vampire vom Blut leben, leben die Gespenster von Aufmerksamkeit, von einem bewussten, zielgerichteten Interesse an der Welt. Unreife Kinder sind für sie deshalb nicht attraktiv.«
»Dann sind sie ja das Gegenteil von den Teufeln in Bolvangar.«
»Mitnichten. Die Oblationsbehörde und die Gespenster mit ihrer Gleichgültigkeit sind beide von einer die Menschen betreffenden Wahrheit besessen: dass Unschuld und Erfahrung zwei verschiedene Dinge sind. Die Oblationsbehörde fürchtet und hasst Staub, die Gespenster fressen ihn, aber vom Staub sind sie beide besessen.«
»Um den Jungen da unten stehen sie besonders dicht herum …«
»Er ist bald kein Kind mehr. Dann werden sie ihn anfallen, und sein Leben wird im Elend der Gleichgültigkeit versinken. Er ist zum Untergang verurteilt.«
»Beim heiligen Petrus! Können wir ihn nicht retten?«
»Nein. Die Gespenster würden sich sofort auf uns stürzen. Hier oben können sie uns nichts anhaben. Wir können nur weiterfliegen und sie beobachten.«
»Aber wo sind die Erwachsenen? Sie wollen doch nicht sagen, dass es in dieser Welt nur Kinder gibt?«
»Die Kinder da unten sind Gespensterwaisen. Es gibt in dieser Welt viele Kinderbanden. Sie ziehen durch die Lande und leben von dem, was die Erwachsenen auf der Flucht zu rückgelassen haben, was, wie Sie ja sehen, nicht wenig ist. Sie leiden also keinen Hunger. Es sieht so aus, als hätte eine Unzahl von Gespenstern die Stadt da unten überfallen und als hätten die Erwachsenen sich in Sicherheit gebracht. Sehen Sie, wie wenig Schiffe im Hafen liegen? Den Kindern passiert hier nichts.«
»Nur den älteren, wie dem armen Jungen da unten …«
»Das ist der Gang der Dinge in dieser Welt, Mr. Scoresby. Wenn Sie wollen, dass Grausamkeit und Ungerechtigkeit aufhören, müssen Sie mich weiterbringen. Ich habe einen Auf trag auszuführen.«
»Mir scheint –« Lee suchte nach den richtigen Worten » mir scheint, dass man die Grausamkeit am besten dort bekämpft, wo man sie antrifft, und dass man dort hilft, wo man sieht, dass Hilfe Not tut. Oder irre ich mich, Dr. Grumman? Ich bin nur ein ahnungsloser Aeronaut. Ich bin so unwissend, dass ich es sogar glaubte, als man mir sagte, Schamanen könnten fliegen. Sie dagegen sind zum Beispiel einer, der das nicht kann.«
»Aber ich kann fliegen.«
»Wie haben Sie das geschafft?«
Der Ballon trieb immer tiefer und das Gelände unter ihnen stieg an. Direkt vor ihnen ragte ein rechteckiger Steinturm auf. Lee schien ihn nicht bemerkt zu haben.
»Ich musste fliegen«, sagte Grumman, »also rief ich Sie und hier fliege ich.«
Er war sich der Gefahr, die ihnen drohte, vollkommen bewusst, wollte aber nicht andeuten, der Aeronaut könnte sie übersehen haben. Und genau zur richtigen Zeit lehnte Lee Scoresby sich aus dem Korb und zog die Leine an einem der Sandsäcke. Der Sand strömte heraus, und der Ballon stieg sanft und flog in einem Meter Abstand über den Turm. Um sie flatterten empört ein Dutzend krächzender Krähen auf.
»Sie haben Recht«, sagte Lee. »Sie haben eine seltsame Art, Dr. Grumman. Haben Sie je unter Hexen gelebt?«
»Ja«, sagte Grumman, »und unter Akademikern und unter purem Geist. Dummheit gab es überall, aber auch darin ein gebettet Körnchen der Weisheit, zweifellos viel mehr davon, als ich erkennen konnte. Das Leben ist hart, Mr. Scoresby, aber wir klammern uns trotzdem daran.«
»Und unsere Reise? Ist sie dumm oder weise?«
»Ich wüsste nichts Weiseres.«
»Erklären Sie
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