Das Maya-Ritual
fünfundzwanzigsten Geburtstag erspart geblieben. An diesem Tag erwartete ich einen Anruf via Satellit von den Hängen des Mount Everest, mit einem Geburtstagsgruß vom »Dach der Welt«. Der Anruf kam, aber es war nicht Manfred, der sich am anderen Ende meldete.
Mein ernster, komischer, gewissenhafter und doch unbeschwerter Manfred hatte sich einer Expedition angeschlossen, die den Müll wegräumte, den Bergsteiger in Jahrzehnten am Everest hinterlassen hatten - hauptsächlich verbrauchte Sauer-Stoffflaschen, alte Kocher und Generatoren und weggeworfene Kletterausrüstung. Der abgelegenste und unverfälschteste Ort der Erde war langsam zu einer riesigen Müllhalde geworden.
Es handelte sich um keine Greenpeace-Expedition, sie war jedoch aus Diskussionen entstanden, an denen wir beide als Mitglieder teilgenommen hatten. Die nötigen Mittel trieb Manfred hauptsächlich in Deutschland auf. Und die sich da auf den Weg nach Nepal machten, waren nicht einfach ein Haufen wohlmeinender Abfallsammler. Es waren ernsthafte Bergsteiger, die sich der Gefahr bewusst waren - einige hatten zuvor bereits selbst den Gipfel bestiegen. Aber diesmal besuchten sie vor allem die Standorte von Basislagern zwischen fünf und sechstausend Höhenmetern, um die krassesten Schandflecke entlang der Route zu beseitigen. Es war eine mühsame Arbeit, in Gruppen schleppten sie schwere Lasten die Hänge hinab zu Schlitten, mit denen sie das Zeug dann zu einer in die eisenharte Erde gegrabenen, vorübergehenden Müllhalde beförderten. Die nepalesischen Behörden hatten ihnen zugesichert, dass das Metall dem Recycling zugeführt würde, wenn nach einer Reihe von Jahren genügend Schrott gesammelt sei. Und Manfred hoffte, dass sie eines Tages in der Lage sein würden, die weggeworfenen Sauerstoffflaschen zu entfernen, mit denen der South Col übersät war, in achttausend Metern die höchstgelegene Müllkippe der Erde.
An ihrem dritten Tag am Everest gerieten Manfred und drei andere auf dem Rückweg von einem höher gelegenen Lagerplatz in einen Schneesturm. Bei zunehmend schlechteren Bedingungen verloren sie einander aus den Augen. Zwei kamen heil zurück, aber Manfred wurde nie mehr gesehen, vom Berg verschluckt, um in ewiger Jugend erstarrt zu bleiben.
Ich hatte keinen Leichnam, den ich halten, keine Stirn, die ich küssen, kein Grab, vor dem ich stehen konnte. Das verband mich mit all den Fischerfamilien, deren Söhne und Männer die See geraubt hatte, mit den Kriegswitwen, deren Partner nie mehr nach Hause kamen.
Und nun war mir Ken Arnolds Leichnam entrissen worden, und sei es auch unter vollkommen anderen Umständen - aber die Wirkung auf mich war ähnlich. Und ich war überzeugt, er hatte das nicht beabsichtigt. Er wusste, dass ich ihn liebte wie den Bruder, den ich nie hatte, wie den Vater, als den ich mir meinen eigenen gewünscht hätte.
Ich hatte meine Eltern an dem Morgen angerufen, als ich von Kens Tod erfahren hatte, aber es hatte sich nur der Anrufbeantworter gemeldet. Da ich seither nichts von ihnen gehört hatte, waren sie wahrscheinlich nach West Virginia gefahren, um sich die Pracht des Herbstlaubs anzusehen. Seit sich Dr. Jack Madison vor fünf Jahren vorzeitig zur Ruhe gesetzt hatte, machten er und seine Frau Ruth daraus eine alljährliche Pilgerfahrt, wenngleich ich mich bisweilen fragte, wozu. Ich sah sie förmlich irgendwo in den Appalachen abseits der Straße parken, meine Mutter auf dem Fahrersitz, voller Begeisterung über die Landschaft, während mein Vater ein Kreuzworträtsel löste und gelegentlich ein »Ja, Schatz, sehr hübsch« einstreute. Von dieser Art nämlich war ihre Beziehung.
»Tut mir Leid wegen der Störung, Jessica.« Kathy kam auf die Terrasse heraus. Rufus, ihr Labrador, rannte an ihr vorbei zum Pool hinab und bellte die Stärlinge an, die empört aufflogen und ihre typischen heiseren Rufe ausstießen.
Kathy war eine Frau Ende fünfzig, mit dunklen Haaren und weichen Zügen; ihre Kinder waren erwachsen, ihr Mann vor fünf Jahren gestorben. »Ich habe eben mit ein paar Leuten gesprochen, die meine Anzeige im Internet gesehen haben. Sie sind sehr interessiert, aber auch nervös. Waren noch nie außerhalb der Staaten. Und die Nachricht von heute Morgen hat sie nicht gerade beruhigt. Deshalb musste ich mich etwas länger mit ihnen unterhalten.«
»Welche Nachricht?«
»Hast du es nicht gehört? Ein Bus voll amerikanischer Studenten ist heute früh in der Nähe von Cancun entführt worden.«
Ich fuhr
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