Das mechanische Herz
eigentlich nie so lange auf.“
Alister zog seinen reichverzierten Chronometer aus dem Ärmel. „Es ist erst kurz nach Mitternacht.“
„Nach Mitternacht!“ Taya verspürte das dringende Bedürfnis zu gähnen. „Kein Wunder, dass ich müde bin. Normalerweise liege ich um zehn Uhr im Bett.“
„Das kann ich nicht glauben! Wo der Abend doch gerade erst angefangen hat.“
„Wohl kaum, wenn man am nächsten Tag fliegen soll und zur Frühschicht eingeteilt ist. Könnt Ihr mir vergeben, Erhabene Octavus, wenn ich mich jetzt auf dem Heimweg mache?“
„Gewiss!“, sagte Viera. „Ich gebe den Dienstboten Bescheid, dass sie eine Kutsche für dich vorfahren lassen.“
„Ich würde mich glücklich schätzen, deinen Ehrengast in meiner Kutsche heimbringen zu dürfen“, erbot sich Alister. „Ich sollte auch aufbrechen, ich muss morgen um neun in der Hochschule sein, wo ich mir den Prototyp für eine neue Maschine ansehen will. Neun Uhr!“ Er tat, als müsse er sich vor Entsetzen schütteln. „Eine herrinnenlos frühe Stunde, wenn ihr mich fragt!“
Mit Alister heimfahren? Fast war Taya geneigt, sich über das Angebot zu freuen – es stellte auf jeden Fall eine Versuchung dar. „Ich möchte Euch keine Mühe machen“, sagte sie etwas verunsichert. „Die Horste liegen nicht gerade auf Eurem Weg.“
„Ich kenne die Klippenstraße, ein allzu großer Umweg ist das nicht.“ Um Alisters Lippen spielte ein Lächeln. „Es wäre für mich die letzte Gelegenheit, meine Schwanenkönigin zu bewundern. Sobald der heutige Abend vorbei ist, verwandelst du dich ja wieder in einen Falken mit Metallschwingen.“
„Lass es!“, schalt Viera. „Taya muss an ihren Ruf denken. Was für einen Eindruck macht es denn, wenn sie in deiner Kutsche nach Hause kommt?“
„Ach.“ Alister schwieg einen Augenblick lang; fast schien es Taya, als sei er beleidigt. „Aber Viera, eine Ikarierin darf doch sicher ...“
„Eine Ikarierin darf doch sicher darauf zählen, dass man sie mit demselben Respekt behandelt wie jeden anderen Gast, den ich in mein Haus lade!“ Viera klang streng.
„Natürlich, ich wollte auch niemandem zu nahe treten!“ Allister wandte sich hilfesuchend an Taya. „Ich will mich einfach nur gern noch ein Weilchen deiner Gesellschaft erfreuen.“
Stirnrunzelnd sah Taya von einem Erhabenen zum anderen. Was sollte sie tun? Der Gedanke, allein in einer Droschke mit Alister zu reisen, reizte sie, erfüllte sie aber gleichzeitig mit leiser Furcht. Sobald sie allein mit ihm im Dunkeln saß, fürchtete sie, würde es nur allzuleicht sein, alle guten Vorsätze in den Wind zu schreiben.
„Ich werde tun, was Ihr für richtig haltet“, sagte sie schließlich zu ihrer Gastgeberin. „Mit dem, was schicklich ist oder nicht, kenne ich mich nicht aus. Ich bin es gewohnt, auf meinen eigenen Schwingen nach Hause zurückzukehren.“
Die beiden Erhabenen lachten. Viera nahm Tayas Hand und zog sie aus dem Stuhl.
„Es wäre besser, wenn du allein nach Hause führst“, sagte sie liebenswürdig. „Mein Cousin ist ein Gentleman, achtet aber nicht so sehr auf seiner und anderer Leute Ruf, wie er es eigentlich sollte.“
„Oh doch!“, protestierte Alister. „Ich bin Dekatur, ich muss das tun.“
„Gut möglich, dass du inzwischen auf deinen eigenen Ruf achtest.“ Viera hob eine Braue. „Verabschiedet euch voneinander, während ich eine Droschke holen lasse.“ Sie drückte Taya die Hand und ging.
Alister sah ihr nach.
„Die liebe Vi, immer will sie einen beaufsichtigen. Ich glaube, meine Position im Rat verdanke ich im wesentlichen ihr“, brummte er ungehalten. „Ich bin sicher, sie hat Caster gezwungen, für mich zu stimmen.“
„Hätte er denn nicht sowieso für Euch gestimmt?“
„Möglich.“ Alister schob seinen Arm unter Tayas. „Darf ich dich denn wenigstens zur Tür begleiten, mein Schwan?“
„Das wäre wundervoll.“ Sie lächelte zu ihm auf, froh darüber, dass Viera ihr geraten hatte, eine andere Droschke zu nehmen. Jetzt durfte sie auch flirten, ohne sich Sorgen um die Folgen machen zu müssen.
„Eins noch, Taya Schwan“, sagte Alister ruhig, als die beiden in der Eingangshalle angekommen waren. Taya blieb stehen. „Überlass die Ermittlungen den Liktoren“, fuhr er fort. „Ich wäre todunglücklich, würde dir etwas zustoßen.“
Gerührt betrachtete sie sein Gesicht – wie fürsorglich er war. Aber was, wenn ihm etwas zustieße? Sollte Cristof an gesetzwidrigen Aktivitäten beteiligt
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