Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
einschenkte und großzügig mehrere Löffel Honig hineingab. Dann reichte er mir einen Becher, als würden wir das jeden Morgen tun.
Aber in Wirklichkeit hatte er – bis wir nach Heart aufgebrochen
waren – mich jeden Morgen gefüttert und mir geholfen, mich zu waschen.
Und ich hatte ihm von meiner Vernarrtheit in Dossam erzählt. In ihn.
Ich trank hastig einen Schluck Kaffee und hoffte, dass er, falls er meine roten Wangen bemerkt hatte, annehmen würde, es würde an dem heißen Gebräu liegen. Die vielen Male, die er mir geholfen hatte, mich zu waschen, die er sich um peinliche Dinge gekümmert hatte – und ich hatte gestern Abend gehofft, dass er mich auf die Stirn küssen würde.
Ich ließ mich auf den nächsten Stuhl plumpsen. Sam folgte mir, nur der Tisch war zwischen uns. Er hielt den Kopf gesenkt, dennoch konnte ich erkennen, dass er mich durch dunkle Haarsträhnen beobachtete. Als er bemerkte, dass ich mich nicht hatte täuschen lassen, sah er aus dem Fenster, so dass Licht über sein Gesicht fiel.
Eigentlich wollte ich ihn fragen, wohin er gestern Nacht gegangen war, stattdessen kamen andere Worte heraus: »Du wirkst nachdenklich« – als hätte mich mein Mund in letzter Sekunde gerettet. Wenn er sich aus dem Haus geschlichen hatte, sollte ich das nicht wissen.
Er blickte noch finsterer drein. »Woran siehst du das?«
»Du kriegst eine Falte. Genau hier.« Ich zog den Zeigefinger zwischen den Augen herab. »Wenn du so weitermachst, bleibt dein Gesicht so stehen.« Ich drückte mir die Hände auf den Mund, der also doch ein Verräter war. »Ich schätze, Falten sind dir egal.«
Er nippte an seinem Kaffee.
»Und jetzt denkst du zu angestrengt darüber nach, wie du auf meine Dummheit reagieren sollst. Man muss ja höflich bleiben, nicht wahr?«
»Du bist heute Morgen wirklich aggressiv. Kaffee macht
dich gemein.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Oder habe ich dich irgendwie gekränkt?«
»Nein, ich bin nur ärgerlich.« Ich stand auf und verschränkte die Arme. »Ich habe etwas Dummes gesagt, und du hast noch nicht mal reagiert. Es ist dir egal. Du bist zu ruhig, selbst wenn du sauer oder glücklich sein solltest.«
Sam zog eine Augenbraue hoch. »Zu ruhig?«
»Ja!« Wütend ging ich durch die Küche und schaute überall hin, nur nicht in Sams Richtung, er würde es nur schlimmer machen. »Wenn etwas passiert, lehnst du dich zurück und denkst darüber nach. Du handelst nicht.«
»Irgendwann tue ich es doch.« Sein Tonfall veränderte sich, wurde leichter, als mache es ihm Spaß, mich zu necken. »Du denkst also nicht, dass du einfach impulsiv bist?«
Ich stutzte und funkelte ihn an. »Impulsiv?«
»Du kennst das Wort, oder?«
»Ja.« Er hielt mich also doch tatsächlich für dumm.
»Es ist einfach so«, fuhr er fort, als hätte ich nichts gesagt, »dass du sehr jung bist, und manchmal vergesse ich, was du weißt und was nicht.«
Meine Brust schmerzte, als hätte er mir mitten ins Herz gestochen.
Ich drehte mich um und marschierte auf die Hintertür zu. Sam sprang auf und hielt mich am Handgelenk und um die Taille fest, und obwohl sein Griff sanft war, hatte ich nicht die Energie, mich ihm zu entwinden.
»Siehst du? Impulsiv.« Er lächelte, lockerte jedoch seinen Griff nicht. »Aber ich wollte dich nicht zu sehr bedrängen.«
Ich biss mir auf die Lippen und versuchte, ihm zu folgen. Ich versuchte ständig zu folgen. »Also hast du es nicht so gemeint?«
»Doch, natürlich. Aber nicht«, fügte er hinzu, als ich zurücktrat,
»den Teil darüber, dass du Worte kennst. Ich meinte nur den Teil, dass du impulsiv bist.«
»Ich bin ein leidenschaftlicher Mensch, das ist alles.«
Er verzog den Mund zu einem verschmitzten Lächeln.
»Wenn ich nur ein Leben habe, will ich es nicht durch Zögern vergeuden.« Ich trat von ihm weg, und seine Hände glitten von meinen Hüften. »Wann hast du denn das letzte Mal deinen Leidenschaften nachgegeben, Sam?«
»Jedes Mal, wenn ich Musik spiele oder eine neue Melodie schreibe.«
»Und wann hast du das letzte Mal etwas getan, das dir Angst gemacht hat?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich meine nicht, ertrinkende Mädchen zu retten oder sie vor Sylphen zu beschützen. Etwas anderes. Etwas wirklich Furchteinflößendes.«
Die Denkerfalte trat wieder zwischen seine Brauen und war so lang, dass ich über all die Geheimnisse nachgrübelte, die er mir nicht verraten wollte. Die Geheimnisse waren seine wirklichen Ängste, und das, was er als
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