Das Meer Der Tausend Seelen
einem noch älteren Fotoapparat war nach Vista gekommen und hatte angeboten, für Unterkunft und Essen ein Foto zu machen. Die Stadt wollte ihn abweisen, doch meine Mutter nahm ihn auf.
Er wohnte eine Woche bei uns und machte am letzten Tag zwei Fotos. Das Wasser war kalt, das weiß ich noch, die Flut kam schnell, die Wellen waren hoch. Aber in den Armen meiner Mutter habe ich mich geborgen und warm gefühlt. Wenn ich genau hinsehe, erkenne ich die Schatten, die über ihr Gesicht geistern. Sie wirkt so verloren auf diesem Bild, verloren in dieser Unschärfe von Wasser und Himmel, und ich bin das Einzige, woran sie Halt findet.
Neben dem Foto liegt das Buch, das meine Mutter heute Morgen in der Hand gehalten hat, als sie mich bat, mit ihr in den Wald zu gehen. Ich hebe es auf, fahre mit den Fingern an den Kanten entlang und überlege, ob die Wärme ihrer Berührung wohl noch immer zu spüren ist.
Ich setze mich aufs Bett, die Matratze sinkt unter meinem Gewicht ein, und ich blättere zu einer bestimmten Stelle, die Worte auf der Seite sind mir so vertraut wie die Möbel.
Als ich ein kleines Mädchen war, hatte meine Mutter mit dem Messer Teile der Gedichte in die Türrahmen des Leuchtturms geritzt, an Stellen, die sie immer mit den Fingern berührte, wenn sie hinein- oder hinausging. Ich habe sie einmal nach dem Grund dafür gefragt, aber sie konnte es mir nie erklären. Ich denke an das Gedicht, das sie letzte Nacht in den Leuchtfeuerraum geritzt hat, sie wollte mich daran erinnern, dass das Licht mich immer nach Hause führen wird.
Ob sie jetzt wohl da draußen ist und darauf wartet, dass dieses Licht am Horizont erscheint und ihr zeigt, dass ich stark genug bin, ohne sie weiter voranzugehen – auch wenn ich nicht sicher bin, ob ich es kann?
Obwohl mir davor graut, besuche ich am Abend Cira. Der Rat hat sie und die anderen ins Gefängnis im Keller des Rathauses verlegt, und der Milizionär, der sie bewacht, sagt nichts zu mir, als ich die kurze Treppenflucht hinunter in einen abgeriegelten, nasskalten Raum gehe, den dicke Gitterstäbe in der Mitte teilen.
Ein paar Familien drücken sich an die Stäbe, ihre Finger umschlingen die Hände ihrer eingekerkerten Kinder, sie kosten jeden gemeinsamen Augenblick vor der Trennung aus. Ich muss stehen bleiben, als ich das sehe. Ich schlucke, die Szene hat solche Ähnlichkeit mit der von letzter Nacht, als die Mudo sich am Strand an den Zaun pressten.
Ich will umkehren und wieder nach oben rennen, aber ich zwinge mich weiterzugehen. Cira kommt schnell auf mich zu, steckt ihre Finger durch die Gitterstäbe.
»Catcher?«, fragt sie atemlos vor Spannung. Ihre Augen strahlen, ihre Wangen sind rosig, sie ist so hoffnungsvoll und lebendig. »Hast du ihn gefunden? Ist er okay?«
Wie kann es sein, dass ich mich darauf nicht vorbereitet habe? Wie kann es sein, dass ich mir keine Lüge habe einfallen lassen, mir irgendwas ausgedacht habe, wie ich es ihr beibringen soll? Aber sie versteht mein Schweigen, ihre Miene wird verzweifelt. »Nein«, flüstert sie. »Nein.«
»Ich habe ihn gefunden.« Ich lehne mich weit zu ihr hinüber, sodass uns niemand belauschen kann. »Er ist in den Ruinen hinter dem Vergnügungspark.«
Hoffnung flammt in ihr auf, doch ich schüttele den Kopf. »Er ist infiziert, Cira.«
Sie taumelt zurück. Ein paar der anderen scharen sich um sie. Blane nimmt ihre Hand, und Cira lehnt sich an sie. Sie funkeln mich beide wütend an.
Da begreife ich, dass sie nicht mehr zu mir gehört. Wir zwei haben getrennte Wege eingeschlagen, die sich nie wieder treffen werden. Sie ist bei ihnen, bei den anderen, die für die Rekruter bestimmt sind. Und ich bleibe zurück, bin die, die weggerannt ist.
Vor zwei Tagen noch wäre sie diejenige gewesen, der ich von der Enthüllung meiner Mutter erzählt hätte, der ich gesagt hätte, wo ich herkomme. Zu ihr wäre ich gegangen, nachdem meine Mutter sich in den Wald aufgemacht hatte. Gemeinsam hätten wir uns überlegt, was getan werden musste und wie es weitergehen sollte. Vor zwei Tagen war sie noch meine beste Freundin und keine Fremde.
Dieses Gefühl will ich zurückhaben. Das Gefühl, dass es jemanden auf der Welt gibt, der mich so gut kennt wie ich mich selbst. Jemanden, der mich das alles nicht allein durchmachen lässt.
»Ich gehe wieder zurück und besuche ihn«, sage ich ihr. Ich trete einen Schritt vor, sie muss hoffen, das brauche ich. »Ich habe ihm versprochen, dass ich komme.«
Ihre Augen sind rot gerändert.
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