Das Meer Der Tausend Seelen
ich das wirklich? Kann ich tatsächlich die ganze Strecke zu den Ruinen, zu Catcher schwimmen?
Die Vorstellung reizt mich, sie schenkt mir den Glauben, ich könne stark und unbezwingbar sein. Aber ich weiß, wenn ich eine Weile drüber nachdenke oder die Sache vernünftig betrachte, werde ich es nie tun. Mir werden tausend Gründe einfallen, warum es dumm ist, warum ich umkehren sollte.
Ich gehe tiefer ins Meer hinein. Ich habe Catcher versprochen zurückzukommen, da zu sein. Er wäre nicht infiziert, wenn ich es geschafft hätte, Mellie zu töten. Wenn wir irgendwie vermocht hätten, den Breaker früher aufzuhalten, wäre all das nie geschehen.
Ich pflüge mit den Armen durchs Wasser, meine Füße lösen sich vom Grund. Ich versuche, nicht an die heranschleichende Dunkelheit zu denken und an die Toten, die in der Tiefe lauern könnten. Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, was ich tue.
Ein Gedanke treibt mich voran: Catcher. Ich muss zu ihm, bevor er sich wandelt. Ich kann ihn nicht allein sterben und zum Mudo werden lassen. Diese Vorstellung kann ich nicht ertragen. Bei ihm zu sein, ist der einzige Gedanke, der mir Halt gibt, das Einzige, worüber ich Kontrolle habe, während die Welt um mich herumwirbelt und sich auflöst. Ich muss mir beweisen, dass ich die Kraft habe, diese eine Sache durchzuführen.
Was kann im schlimmsten Fall passieren? Im Wasser könnten Mudo sein, die nicht benommen sind. Ich könnte gebissen, angesteckt und in die tiefsten Tiefen des Ozeans hinuntergezogen werden, um umgehend zum Breaker werden. Prustend schwimme ich weiter, verdränge die Angst, und je weiter ich mich vom Ufer entferne, desto gewaltiger strenge ich meine Lungen an. Mit geschlossenen Augen kommt mir das Meer endlos tief vor.
Ich tauche auf und schwimme in die Richtung, in der die Spitze des Hafendammes sein müsste, auf den Damm aus Findlingen zu, der die Stadt vom Vergnügungspark und den Ruinen trennt. Ich bin schon fast da, als etwas meinen Fuß streift. Ich schreie und schlucke Wasser.
Etwas wie Haar verheddert sich in meinen Händen, und ich bäume mich im Wasser auf. Ich will meine Finger losmachen und trete alles mit Füßen, was ich nicht sehen kann. Gedanken an Arme, die mich packen, Zähne, die in mein Fleisch geschlagen werden, gellen mir durch den Kopf.
Ich fuchtele, schlage auf das Wasser ein und hieve mich auf den Hafendamm, wo ich auf den glitschigen Felsen ausrutsche. So schnell wie möglich krieche ich über den Damm, keuchend nach Luft schnappend. Ich schaue auf meine Hände. Meine Arme zittern, mein Herz kreischt. Seetang hat sich in langen Fäden um meine Finger geschlungen und glänzt im Mondschein.
Ich schaue den Damm entlang, dorthin, wo er auf die Barriere trifft. Kleine Laternen der Milizionäre flackern in der Nacht. Lange wird es nicht dauern, bis die Patrouille kommt, bis sie meinen Schatten zwischen den Findlingen entdecken.
Bevor ich auf der anderen Seite des Dammes wieder ins Wasser springe, schaue ich mich zum Leuchtturm um, der in die Dunkelheit geätzt ist. Ich habe das Gefühl, etwas hinter mir zu lassen. Etwas, zu dem ich nie wieder zurückkommen kann. Und dann geht mir auf, dass ich vergessen habe, die Laterne anzuzünden. Ich verfluche meine Dummheit. Einen Moment lang überlege ich sogar, ob ich umkehren soll. Ich denke an meine Mutter im Wald. Was ist, wenn sie nun am Horizont nach dem Licht Ausschau hält? Was ist, wenn das alles ist, woran sie sich halten kann?
Aber Catcher wartet. Ich habe es ihm versprochen. Wenn ich wieder zurückgehe, werde ich mich bestimmt nicht noch einmal auf den Weg machen, und dann wird er seinem Schicksal ganz allein ins Auge sehen müssen.
Meine Brust schnürt sich zusammen, und ich mache eine Pause, um zur Beruhigung durchzuatmen. Dann gleite ich wieder ins Wasser und halte auf den Uferstreifen vor den Ruinen zu.
Der Strand ist leer, als ich mich langsam aus den Wellen schleppe, Wasser läuft meine nackten Beine herunter. Hinter mir bläst der Wind stark und böig. Ich bleibe kurz stehen, warte darauf, dass der Mond hinter der Wolkendecke hervorkommt und das Licht besser wird, und spitze die Ohren, ob das Stöhnen von Mudo über das Rauschen des Wassers hinweg zu hören ist.
Die Mudo von letzter Nacht sind weg, der Strand ist ruhig. Langsam stapfe ich auf die Dünen zu, meine Füße versinken im warmen Sand. Ich ziehe Elias’ Messer aus dem Gürtel. Immer noch keine Mudo.
An der Uferbefestigung klettere ich über die Bretter, die
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