Das Meer Der Tausend Seelen
und geht langsam die Treppen hinab. Er lässt mich auf dem Treppenabsatz stehen, keuchend, als hätte ich noch nie geatmet, meine Fäuste zittern, meine Finger sind taub.
Der Himmel klart an diesem Abend zwar auf, doch die mächtigen Wellen werfen immer noch Mudo ans Ufer, die aufgeblähten Leiber häufen sich am Strand. Die Miliz setzt ihre Schichten fort, in weniger hektischem Tempo, aber immer noch so angestrengt wie zuvor.
Mit all den Männern, die sich dort aufhalten, mit Daniel und seinen brennenden Blicken ist es im Leuchtturm zu stickig und zu warm. Ich will nach draußen flüchten, aber da sind sie auch. Sie gehen am Ufer entlang und halten Äxte und Sichel für den nächsten Leib bereit. Im schwindenden Licht sammeln sie Holz und machen Feuer, die erst nicht brennen wollen, dann aber knacken und knistern und einen schwachen Schein auf den Sand werfen.
Ich flüchte mich mit der Entschuldigung nach oben, mich um die Laterne kümmern zu müssen. Ich erwecke es zum Leben, ziehe den Mechanismus auf, setze ihn jedoch noch nicht in Gang. Ich starre das Licht an und frage mich, ob Catcher noch lange genug leben wird, um es zu sehen. Und ob meine Mutter am Horizont danach Ausschau halten wird.
Interessiert sich überhaupt noch irgendjemand für mich und dieses Licht?
Ich lasse den Span, mit dem ich die Laterne angezündet habe, fallen, die kleine Flamme flackert durch die Luft, bis sie als glühend rote Asche zu Boden schwebt. Ich habe das Leben meiner Mutter übernommen. Und plötzlich stelle ich mir vor, dass sich mein ganzes Dasein vor mir entfaltet, von Glocken bestimmt, die den Wechsel der Tiden ankündigen, und gemessen in Umdrehungen der Lampe.
Ich sehe alles vor mir: Wellen, die krachend brechen und auslaufen, die Sonne, die den Platz mit dem Mond tauscht, und den Horizont, der sich ein ums andere Mal flammend orange färbt. Der Wald rankt über die Zäune, die zu alt und zu endlos sind, um instand gehalten zu werden. Die Ruinen verfallen, bis nur noch Schutt übrig bleibt, die Achterbahn gibt schließlich der Schwerkraft nach, während Vista keucht und würgt und versucht auszuhalten, bis eines Tages der Leuchtturmmechanismus knirschend zum Stillstand kommt und für die Reparatur keine Ersatzteile von vor der Rückkehr mehr zu beschaffen sind. Das Protektorat gibt die nutzlose Stadt auf, und sie verblasst in der Zukunft, wird vergessen.
Und während all das geschieht, stehe ich hier bei jedem Gezeitenwechsel allein auf der Galerie und warte. Auf meine Mutter, auf Hoffnung für Catcher und Cira. Bei jeder Dämmerung zünde ich die Lampe an, nach der sich niemand richtet. Bei jeder Springflut enthaupte ich Leute-die-einmal-waren wie Catcher und Mellie – während ich zwar in Sicherheit bin, aber alt und allein.
Auf mich wartet niemand, niemand, der mich kennt. Niemand, mit dem ich mein Leben und meine Erfahrungen teilen kann. Es gibt nur mich und den Ozean, die Gezeiten und den Leuchtturm und eine Welle nach der anderen, die an den Strand schwappt. Anders als bei Roger spült keine Mary an den Strand. Anders als bei meiner Mutter ist kein Kind aus dem Wald zu retten.
Und jetzt verstehe ich, was meine Mutter zurück in den Wald getrieben hat, wo sie nur mich gefunden hat – was sie dazu gebracht hat, mich zu behalten und sich vom endlosen, leeren Horizont abzuwenden. Warum sie vergessen wollte und warum sie sich letzten Endes erinnert hat.
Plötzlich ist mir bewusst, wie wenig ich von meiner Mutter aus der Zeit vor mir weiß. Sie ist aus dem Wald, sie hat ihr Dorf verlassen und sich zum Meer durchgekämpft. Ich weiß, sie ist stärker, als ich je hoffen kann zu sein. Sie hat dieses Leben geschaffen, damit sie mich in der Sicherheit aufwachsen lassen konnte, die sie in ihrer Kindheit nie gespürt hat.
Ich weiß, meine Mutter hat geliebt, aber ich weiß nichts darüber, nur dass sie deswegen vergessen wollte. Ich weiß, sie hat Vista irgendwann verlassen, ist in die Dunkle Stadt gereist und darüber hinaus –, und doch hat sie irgendetwas wieder hierhergezogen. Aber ihre Träume? Was weiß ich denn davon?
Jetzt spüre ich den Verlust meiner Mutter so unheimlich stark. Ich möchte zu ihr kriechen, und dann soll sie mir sagen, dass alles wieder gut wird. Dass ich immer in Sicherheit sein werde.
Sie soll mir sagen, dass die Welt zwar innerhalb einer Woche ihren Lauf ändern kann, sich aber dennoch weiterdrehen wird.
Ich lasse die Finger über das Getriebe der Lampe geleiten, die geölten Zähne
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