Das Meer Der Tausend Seelen
so«, erwidere ich, genervt von seiner Fähigkeit, mir das Wort im Mund umzudrehen. Um uns herum verstummt die Nacht und hält den Atem an. Ich presse die Lippen aufeinander. Ich habe genug von diesem Gespräch, genug von Elias, der mich dazu zwingt, etwas zu hinterfragen, was mein ganzes Leben lang genauso selbstverständlich für mich war wie Ebbe und Flut.
»So war es immer«, sage ich. »Sie sterben. Das heißt, sie hören auf, die zu sein, die sie einmal waren.«
»Aber was ist mit Leuten, die sterben und wieder ins Leben zurückkommen … mit denen, die nicht angesteckt sind?«, fragt er. »Leute, die ertrinken. Ihr Herz hört auf zu schlagen, und dann fängt es wieder an. Das passiert – sie sterben, und sie kommen zurück. Aber sie sind immer noch dieselben Menschen. Sie verlieren nichts durchs Sterben.«
Entnervt gebe ich meinem Zopf einen Ruck, ich verstehe nicht, warum er diese Diskussion nicht aufgeben will. »Das ist etwas anderes. Die, die ertrinken, sind ja nicht infiziert. Wenn sie es wären, würden sie als Mudo wiederkommen. Und wenn sie sich unter Wasser wandeln wahrscheinlich als Breaker.«
»Glaubst du wirklich, dass es so einfach ist?«
»Ja, das ist es«, bestätige ich und versuche, meine eigene Unsicherheit zu unterdrücken. »Ansteckung führt zum Tod. Tod wird zu Mudo. Mudo wird zu Hunger. So ist es seit der Rückkehr, und so wird es immer bleiben.«
Ich drehe mich um, will weggehen und nach Cira sehen. Hoffentlich begreift er, dass unser Gespräch für mich abgeschlossen ist. Aber trotzdem höre ich seine nächste Frage noch.
»Und was ist dann mit Catcher?«
Ich bleibe kerzengerade stehen, meine Hand hält das Messer umklammert. Ich lege den Kopf in den Nacken und starre hinauf in den Nachthimmel.
Er kommt so dicht an mich heran, dass ich ihn in der Dunkelheit fühlen kann. »Er ist infiziert«, sagt er leise. »Behauptest du, er ist nicht mehr derselbe Mensch?«
Mein Herz hämmert in meiner Brust, unser Gespräch kreist unaufhörlich in meinem Kopf. Ich will ihm sagen, dass er falschliegt, dass Catcher unverändert ist. Ich will wütend auf Elias sein, weil er meine Worte verdreht, doch ich kann es nicht. Denn die Rückkehr hat nichts Logisches, ebenso wenig wie die Mudo. Dafür hat es nie eine Erklärung gegeben.
»Ich hasse dich«, sage ich einfach. Denn im Moment kann ich dieses Gefühl, innerlich aufgefressen zu werden, diesen alles durchdringenden Schmerz in mir, nur so beschreiben.
Elias reagiert darauf, als hätte ich ihm eine Ohrfeige gegeben. Ich weiß, ich sollte es zurücknehmen, ich bin zu weit gegangen. Und gerade als ich mich entschuldigen will, werde ich von einer anderen Stimme daran gehindert. Catcher kommt von der Brücke auf Cira zu, und ich frage mich, wie lange er schon hier ist – und wie viel er gesehen und gehört hat.
»Ich habe den Pfad gefunden«, sagt er. Seine Brust hebt und senkt sich, er hat Mühe, wieder zu Atem zu kommen. »Es ist nicht weit, aber wir müssen so schnell rennen, wie wir können.« Er kniet sich vor Cira hin und nimmt sie in die Arme.
Ich will ihm helfen, da höre ich ein neues Geräusch. Diesmal ist es ein Brummen, tiefer als das Stöhnen der Mudo-Frau vorhin. Ich brauche einen Moment, bis ich begriffen habe, was es ist: das Knurren eines Hundes. Und das Rufen eines Mannes. Die Geräusche kommen vom Pfad hinter uns, der nach Vista führt. Durch die Bäume sehe ich ein oder zwei kleine Lichter aufblitzen, und nun ist es Gewissheit: Sie sind hinter uns her.
26
C atcher zögert nicht. Mit Cira in den Armen springt er auf. Blätter rascheln, die Männer kommen immer näher. Ich packe mein Messer fester und schaue über die Brücke zum Wald. Im Kopf weiß ich, dass das unsere größte Hoffnung ist, doch mein Körper will nicht von der Stelle. Das hier widerspricht allem, was man mich je gelehrt hat, allem, was ich weiß.
»Sie ist von oben bis unten mit frischem Blut beschmiert. Lange werden die Ungeweihten nicht brauchen, um uns aufzuspüren«, sagt Elias und weist mit dem Kopf auf Catcher und Cira.
Catcher geht mit seiner Schwester auf dem Arm einfach über die Brücke. »Wir schaffen es«, entgegnet er, und ich wünschte, ich wäre auch so zuversichtlich.
Ich werfe einen Blick zurück. Vielleicht könnten wir ein Stück stromabwärts gehen, bei den Wasserfällen runterklettern und an der Flussmündung wieder an den Strand gelangen. Vielleicht gibt es ja noch eine andere Möglichkeit, uns vor der herannahenden Miliz und
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