Das Meer Der Tausend Seelen
den Rekrutern zu verstecken. Doch da schießt der erste Hund vom Weg herunter und rennt mit gefletschten Zähnen auf uns zu. Nun weiß ich, dass wir keine Wahl mehr haben.
Die bislang nur leicht brodelnde Panik kocht über. »Los!«, brülle ich. »Lauft!« Wir sprinten über die alte Brücke, die unter unserem Gewicht schwankt. In den Lücken zwischen den Holzplanken tobt und tost der Wasserfall, der in die schwarze Leere stürzt. Ich kann die Flammen der Fackeln beinahe hinter uns spüren, als wir das andere Ende der Brücke erreichen, als Elias gegen das Tor rennt und hektisch an dem Riegel nestelt.
Unter uns geben die alten Bretter nach, als noch mehr Füße darüberstampfen. Die Rufe, mit denen die Männer uns aufhalten wollen, fressen sich mein Rückgrat hinauf. Schließlich gibt Elias dem Tor einen Stoß, und es schwingt so weit aus, dass es gegen den Zaun prallt. Nacheinander laufen wir hindurch, schlagen die Pforte hinter uns zu – und dann sind wir im Wald.
Wir bleiben nicht stehen. Catcher rennt, Cira fest im Arm, zwischen Bäumen und Büschen hindurch. Elias und ich folgen, stolpern über Baumwurzeln und herabgefallene Äste. Ich schaue mich um, die Männer haben am Zaun angehalten. Ihre Münder bewegen sich, ich kann ihre Rufe aber nicht hören.
Denn das Stöhnen überlagert alles. Die Mudo haben uns gewittert. Sie wissen, dass wir hier sind. Und sie wollen uns holen. Langsam stolpern sie aus der Dunkelheit und umzingeln uns.
Zuerst bin ich überzeugt davon, dass wir es nicht schaffen werden, dass wir den größten Fehler überhaupt gemacht haben. Alles – zu den Rekrutern geschickt werden, die Hinrichtung, ins Gefängnis gesteckt zu werden – wäre besser als das hier.
Alles wäre besser, als von den Mudo in Stücke gerissen zu werden.
Ich halte mein Messer fest umklammert. Bei jedem Blatt, das sich in der Schwärze des Waldes regt, bei jedem knackenden Zweig, hole ich aus. Kaltes Entsetzen kriecht mir in die Knochen und macht meine Muskeln hart. Am liebsten würde ich panisch loskreischen, doch ich konzentriere mich auf das, was jetzt getan werden muss. Einen Fuß vor den anderen setzen. Catcher nicht aus den Augen verlieren. Er ist der Einzige, der weiß, wo der Pfad ist.
Der Boden unter mir ist uneben, ich stolpere über eine Erhebung und stürze. Elias ruft meinen Namen. Dann ist er an meiner Seite und hievt mich hoch. Er zieht mich mit sich, schlängelt sich mit mir durch Bäume und Gestrüpp. Dornen und Ranken reißen mir an Gesicht und Haaren und zerkratzen mir die Haut, während ich voranhaste.
Wie ein schemenhaftes Gespenst, eine in der Dunkelheit kaum wahrnehmbare Gestalt, wirkt Catcher, der vor uns läuft. Ich habe schreckliche Angst, ihn noch einmal aus den Augen zu lassen, mit ihm auch unsere einzige Hoffnung zu verlieren. Bis jetzt konnten wir ihnen entkommen, aber lange werden wir dieses Tempo nicht beibehalten können.
Am Ende werden die Mudo uns einholen. Das tun sie immer.
Und dann hält mich etwas zurück, mein Rock hat sich verhakt und legt sich stramm um meine Beine. Ich drehe mich im Fall, sodass ich mit der Hüfte auf den Boden schlage. Untote Finger reißen an meinem Saum. Ein Mudo ohne Beine versucht heranzurobben. Ich trete nach ihm. Immer wieder trifft meine Ferse seine Arme und seinen Kopf.
Seine Finger sind zerdrückt, trotzdem halten sie die Falten meines Rockes noch fest. Ich schleppe mich über den Boden, versuche wegzukommen. Elias dreht sich zu mir um und zögert nicht, bevor er seinen Fuß mit einem ekelhaften Knacken in den Schädel des Mudo rammt. Endlich lösen sich die Finger. Elias hilft mir auf die Beine. Noch mehr Arme und Finger greifen aus der Dunkelheit nach mir, während ich die Überreste meines Rockes fest an mich drücke.
Catcher wird langsamer und verlagert Ciras Gewicht in seinen Armen. Ich bin besorgt, dass er die Orientierung verloren haben könnte, dass wir uns verirrt haben könnten, und jetzt bis zur völligen Erschöpfung im Kreis in diesem dunklen Wald herumlaufen. Elias packt meinen Arm, und keuchend stolpere ich mit ihm hinter Catcher her.
Und dann sehe ich es: Das Tor ragt in der Dunkelheit auf, der nackte Rahmen schimmert im Schein des aufgehenden Mondes. Hoffnung regt sich in mir, aber ich habe Angst, danach zu greifen, Angst, durch die Hoffnung den Fokus zu verlieren. Hinter dem Tor erstreckt sich ein von Zäunen begrenzter schmaler Pfad. Ranken ziehen sich durch den Maschendraht, irrwitzige, in der Nacht blühende
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