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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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vorgerecktem Kinn.
    Sie würde nicht so zittern wie ich. Sie würde nicht bei jedem knackenden Ast zusammenzucken. Sie würde sich nicht wegen des unablässigen Stöhnens der Mudo, die an beiden Seiten des Zaunes zerren, die Ohren vom Kopf reißen wollen.
    Meine Augen werden feucht, ich wische mit den Handflächen darüber und fühle mich wegen der Tränen nur noch schwächer. Mit einem tiefen Atemzug versuche ich mich zu beruhigen und irgendeine Art von Kraft zu finden.
    Das ist das wahre Problem, denke ich, als ich den Daumen über die flache Seite des Messers gleiten lasse und das Muster spüre. Nicht, dass meine Mutter mir darüber, wer ich bin und wo ich herkomme, Lügen erzählt hat. Sondern, dass ich immer gedacht habe, ich könnte sein wie sie, und etwas von ihr – das, was sie so sicher und stark machte – müsste auch in mir stecken. Ich musste es nur finden.
    Doch die Tatsache, dass ich nicht ihr Kind bin, heißt natürlich, dass ich rein gar nichts mit ihr gemeinsam habe. Also kann ich mir auch keine Hoffnung machen, je so zu sein wie sie.
    Fast wäre ich auf Elias geprallt, bevor ich merke, dass er stehen geblieben ist. Er hat den Kopf in den Nacken gelegt und schaut nach oben. »Was ist?«, frage ich. Meine Muskeln spannen sich in Erwartung eines unsichtbaren Feindes an.
    Er sagt nichts, zeigt nur zum Himmel hoch. Ich starre ihn an. »Sieh doch«, sagt er.
    Ich hole tief Luft, Argwohn steigt in mir auf. Dann lege ich meinen Kopf ebenfalls langsam in den Nacken. Der Abendhimmel hat sich schon vor einer Weile verabschiedet, und tiefe Dunkelheit hat um sich gegriffen. Die Nacht riecht nach Blumen und Erde. Wie Tod und Blut. Aus dem sumpfigen Boden steigt die Hitze des Tages auf und legt sich um meine Knöchel.
    »Was ist?«, frage ich ungeduldig, ich bin schmutzig, erschöpft und verängstigt.
    Elias stellt sich hinter mich, unsere Wangen berühren sich fast. Mir stockt der Atem, weil er mir so nah ist. Die Wut auf ihn köchelt noch immer in mir, aber ich muss ständig an diesen Moment am Strand zurückdenken und kann nicht umhin zu bemerken, dass ich mich nur umdrehen müsste … und unsere Lippen würden sich berühren.
    Ich will ihn nicht mögen. Ich will nichts für ihn empfinden. Hassen ist viel leichter – und abzulehnen, was er sagt, damit ich nicht nachdenken, nicht die Welt infrage stellen muss und alles, was man mir beigebracht hat.
    Ehe ich mich davonmachen kann, nimmt er meine Hand und hebt sie, bis sie zum Himmel zeigt. Ich drehe den Kopf, schaue den Pfad entlang, den wir gekommen sind, und überlege, wie weit Catcher und Cira wohl zurück geblieben sind – und ob sie uns hier stehen sehen könnten.
    Und dann flüstert Elias mir ins Ohr. »Schau zu den Sternen.« Meine Atemzüge sind ein wenig zittrig, und ich schlucke einmal zur Beruhigung, dann lasse ich meinen Blick unseren Fingern folgen. Es fällt mir schwer, mich auf etwas anderes als ihn zu konzentrieren, doch schließlich sehe ich es – ein winziges Licht zieht ruhig zwischen den Sternen dahin. »Was ist das?«, frage ich.
    »Ein Satellit.«
    Als ich versuche, das Wort einzuordnen, geht mir blitzschnell alles durch den Kopf, was ich in der Schule gelernt habe. Er lässt unsere Arme wieder sinken, unsere Finger bleiben aber umschlungen. Ich will ihn von mir wegschieben und gleichzeitig näher zu mir heranziehen. Doch ich konzentriere mich einfach auf meine Atmung, während ich den wandernden Lichtpunkt am Himmel beobachte.
    »Der ist von vor der Rückkehr«, sagt er. Und jetzt erinnere ich mich. Ich weiß noch, wie der Lehrer uns im Unterricht von Satelliten erzählt hat, als er mit uns Schwerkraft und das Sonnensystem behandelt hat. Elias’ Daumen streicht über meine Hand, und ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen. War das nur ein Tick, oder hat er es mit Absicht gemacht? Mein Herz rast, er kann meinen Puls bestimmt unter jedem Zentimeter meiner Haut spüren.
    »Ich habe noch nie danach Ausschau gehalten«, antworte ich. »Ich glaube, ich dachte, sie wären längst nicht mehr da. Wie alles andere.« Meine Stimme ist rau, die Zunge belegt. Es fällt mir schwer, an etwas anderes zu denken als an seine Nähe. Und wie schön es ist, Händchen zu halten und jemanden zum Anlehnen zu haben.
    »Mich fasziniert alles, was fliegt«, bemerkt er leise. Ich halte den Atem an und wünsche mir, dass er weiterspricht, wünsche mir, mehr als nur diese Winzigkeit darüber zu erfahren, wer er ist. »Es ist seltsam, sich vorzustellen, dass sie

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