Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
Stiefel.«
»Das eine klappt nicht ohne das andere, oder?«, gab sie spitz zurück.
Ich knallte meinen Kaffeebecher auf den Tisch. »Du traust mir wohl gar nichts zu«, zischte ich und beugte mich vor. »Nur weil es nicht meine Art ist, die Leute in den Arsch zu treten. Nicht dass das eine Tugend wäre. Das Leben ist doch kein Pokerspiel. Immerhin sind wir erwachsen.«
»Hör zu, ich wollte nicht …«
»Du hast ja gar keine Ahnung, wie viele Türen ich einrennen musste, um mit einem Abschluss an einem staatlichen College den Job bei Sterling Bates zu landen. Weißt du, was ich seitdem habe wegstecken müssen? Also behaupte nicht, dass ich mich nicht durchsetzen kann.«
»He, immer mit der Ruhe. Ich behaupte ja nicht, dass du ein Mäuschen bist, Liebes, sondern meine nur, du solltest dich vor Alphamännchen hüten. Suche dir lieber einen netten Dichter. Versuche … Warum lachst du jetzt?«, fragte sie verwirrt.
»Nichts … nur das mit dem Dichter.«
»Egal. Ich erkenne an deinen Augen, dass er für dich der Traumprinz ist. Ich habe nur meine Meinung gesagt.«
Mein BlackBerry summte. »Er ist kein Traumprinz«, erwiderte ich und griff zum Telefon.
»Endlich fertig. Liege in zehn Minuten in Deinen Armen. XX.«
Ich steckte das Telefon ein. »Die Sitzung ist zu Ende. Können wir den Kaffee auf dem Heimweg austrinken?«
»Klar.« Sie stand auf.
Jeder seinen Kaffeebecher in der Hand, gingen wir zur Tür und traten in die milde Septembernacht hinaus. Die Ampel hatte gerade umgeschaltet, und eine Armada aus Taxis rollte auf der Suche nach Fahrgästen zurück in die Innenstadt. Als ich mich umschaute, sah ich gerade noch, dass der komische Kauz aus dem Starbucks kam und uns die Lexington Avenue hinunter folgte.
»Dann erzähl mir von seinen Fehlern«, sagte Michelle. »Furzt er vielleicht? Bohrt er in der Nase? Oder kratzt er sich beim Fernsehen die Eier?«
Ich zwang mich zu einem Lachen. »Hör auf, Michelle! Erstens sieht er nicht fern.«
»Er sieht nicht fern? Keinen Kabelkanal am Sonntag? Ist das dein Ernst?«
»Wir beschäftigen uns anderweitig.« An der Ecke blieben wir stehen, bevor wir die Straße überquerten. Ich nutzte die Gelegenheit, um beiläufig einen Blick hinter mich zu werfen. Doch da der Gehweg voller Menschen war, konnte ich den Mann nicht ausmachen.
»Und was ist mit dem Rest?«, ließ sie nicht locker. »Das ist doch eine völlig fremde Welt für dich. Musst du da nicht repräsentieren? Wohltätigkeitsveranstaltungen? Mittagessen mit anderen Gattinnen? Tweedkostüme von Chanel? Du weißt, dass das nichts für dich ist.«
»Er würde mich nie zu so etwas zwingen.«
»Mal im Ernst. Was ist, wenn ihr heiratet und ein oder zwei Kinder kriegt? Und dann wachst du eines Tages auf und stellst fest, dass du nur Mrs. Julian Laurence, Millionärsgattin, bist? Was wird aus Kate? Willst du wirklich nichts mehr vom Leben?«
Ich setzte zu einer Antwort an, aber mir fiel keine ein. Was sollte ich ihr schon sagen? Julian ist ein wundervoller Mann, aber ich fürchte, seine Erlebnisse im Schützengraben könnten Narben hinterlassen haben, die er mir verheimlicht? Natürlich nicht. Das konnte ich ihr ebenso wenig erzählen wie meiner Mutter. Selbst die guten Seiten musste ich ihr verschweigen, nämlich wie sehr unser kostbares Geheimnis Julian und mich zusammengeschweißt hatte, so dass es manchmal war, als würden wir denselben Verstand bewohnen – auch wenn Teile davon mir leider weiterhin verschlossen blieben. Wir waren derart miteinander verflochten, dass der bloße Gedanke lächerlich war, einer von uns könnte sich einen Seitensprung erlauben.
Die Erkenntnis ließ mich erstarren. Bis jetzt hatte ich meinen Freundinnen stets alles anvertrauen können, ja, sogar um einiges mehr als meiner eigenen Mutter. Doch nun war eine undurchdringliche Barriere heruntergefahren. Ich durfte mit niemandem offen reden. Das Geheimnis, das mir Julian so nah gebracht hatte, hatte mich gleichzeitig von allen anderen Menschen in meinem Leben entfernt.
Stirnrunzelnd sah ich mich um.
»Was ist?«, fragte Michelle.
»Nichts«, sagte ich. »Nur so ein Typ. Er hat sich in der Warteschlange bei Starbucks irgendwie an uns rangewanzt, und ich glaube, dass er jetzt hinter uns ist. Schau nicht hin.«
Ihr Kopf hielt mitten in der Bewegung inne. »Glaubst du, dass uns jemand verfolgt?«
»Nein, nein«, antwortete ich. »Wahrscheinlich übertreibe ich. Julian macht sich nämlich ständig Sorgen, weil er so etwas wie
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