Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
durchs Haar und warf den Stift auf die Arbeitsplatte. »Gut, dann hör es dir an. Ich bin 1997 oder 1998 zufällig auf Hollanders Buch gestoßen, und zwar in einem Buchladen in Park Slope. Damals habe ich eine ziemlich schwere Zeit durchgemacht und fühlte mich ausgesprochen elend. Es gab niemanden, mit dem ich reden konnte. Ich hatte eine anspruchslose Stelle im Büro von Goldman gefunden, hatte keine Freunde und war kurz davor, von der Brooklyn Bridge zu springen.«
Ein leises Geräusch stieg in meiner Kehle auf. Am liebsten wäre ich zu ihm gegangen, um ihn zu trösten, aber er klang so sachlich, emotionslos und abweisend, dass es mir nicht gelang, die Kluft zu überwinden.
»Also beschloss ich, das Risiko einzugehen. Ich schickte ihm eine E-Mail, in der ich schrieb, ich hätte sein Buch gelesen, wäre an dem Thema interessiert und würde mich gern mit ihm treffen. Er antwortete sofort. Und so nahm ich einen Tag Urlaub und flog hin.« Julian drehte sich um, lehnte sich mit dem Rücken an die Arbeitsfläche und schaute zu Boden. »Natürlich wusste er auf den ersten Blick, wer ich war. Er war freudig überrascht. Vermutlich würde es jedem Historiker so ergehen, wenn sein Forschungsobjekt einfach eines Morgens zur Tür hereinspaziert kommt. Die Tatsache, dass es mich überhaupt gab, nahm er mit erstaunlicher Gelassenheit zur Kenntnis. Meine Welt war ihm so nah, dass ihm die Tragweite der Lage erst später völlig bewusst wurde.«
»Ja, ich hatte auch ein paar Professoren, die so waren«, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln.
»Also hat er mir geholfen. Wir haben lange Gespräche geführt und sind Freunde geworden. Beinahe wäre ich nach Boston gezogen, nur um in seiner Nähe zu sein. Allerdings nahm mein Interesse an der Arbeit bei Goldman zu. Der Anfang des steinigen Pfades, der irgendwann zur Gründung von Southfield führte. Jedenfalls hat Hollander mein Geheimnis bewahrt. Dafür habe ich ihn bei seiner Arbeit unterstützt und ihm meine Erinnerungen anvertraut. In den letzten Jahren ist das Verhältnis ein klein wenig abgekühlt. Southfield hat dem alten Marxisten gar nicht gefallen«, fügte er mit einem nachsichtigen Schmunzeln hinzu.
»Was genau ist geschehen?«, hakte ich nach. »Nach eurem Treffen an Weihnachten hast du mir den Laufpass gegeben. Vor zwei Tagen hast du ihn wieder besucht und dich anschließend hierher geflüchtet. Also vermute ich, dass es nicht um einen verärgerten Investor bei Southfield geht, richtig? Eine nette kleine Notlüge?«
Er zuckte zusammen. »Ich habe es nicht gern getan.«
»Verzeihung, ich wollte kein Salz in die Wunden streuen. Schließlich weiß ich, dass Gentlemen wie du einen Ehrenkodex haben.« Ich machte ein paar Schritte auf ihn zu und berührte ihn am Ellbogen. »Offen gestanden, wächst er mir langsam ans Herz.«
Er schlang den Arm um mich. »Ich wollte dich nur schützen«, sagte er leise.
»Ich weiß. Ich bin auch nicht sauer.« Ich legte ihm den Arm um die Taille und spürte, wie sein Körper nachgab und sich an mich schmiegte. »Erzähl mir, was an Weihnachten passiert ist.«
Er begann mein Haar zu streicheln. »Jemand hatte sich meinetwegen an ihn gewandt. Wegen des historischen Julian Ashford. Er hatte die Biographie gelesen, hat sich vor allem für Ashfords letzte Tage interessiert und wollte die Originalunterlagen sehen.«
»Was für Originalunterlagen?«
Sein Griff wurde fester. »Briefe, mein dienstliches Notizbuch und ähnliche Dinge. Hollander hat von den derzeitigen Ashfords Faksimiledrucke davon erhalten. Natürlich hat er sich geweigert, da er den Burschen nicht kannte. Das war der Tag, an dem du mich besucht hast.«
»Als der Anruf kam«, ergänzte ich und nickte, den Kopf an seine Brust gelehnt.
»Hollander hat also versucht, ihn abzuwimmeln. Da hat der Kerl es auf eine andere Methode probiert. Er sagte, er habe von diesem Laurence bei Southfield gehört und sein Foto in der Times gesehen. Finde Hollander nicht auch, dass er Ashford ausgesprochen ähnlich sehe?«
»Heißt das, er weiß es?«, fragte ich.
»Keine Ahnung. Jedenfalls hat er Hollander ziemlich bedrängt, ihm Geld angeboten und dann sogar die eine oder andere Drohung ausgestoßen. Er habe … eine merkwürdige Information, die meine letzten Tage in Frankreich betreffe. Wir sind nicht sicher, wie er an sie herangekommen ist. Aber er hatte sie. Das genügte für Hollander, mich anzurufen, sobald er aufgelegt hatte. Er hatte den Eindruck, dieser Mensch verfolge
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