Das Meer in seinen Augen (German Edition)
Minuten vergangen. Noch immer bekam er keine Luft. Grob wurde er nach vorn gerissen und landete bei Christian. Arme umschlangen ihn, hielten ihn. Endlich brach sein Schluchzen durch und er holte Luft. Sein Kopf wurde an den von Christian gedrückte, während sein Körper wie von Krämpfen geschüttelt wurde.
»Pscht«, machte Christian. »Ist gut.« Er wiegte ihn sanft vor und zurück. »Ich bin bei dir.«
Es schien Merlin, als sei eine Ewigkeit vergangen, ehe er wieder normal atmen konnte. Peinlich berührt stellte er fest, dass er Christian an den Hals gesabbert hatte. Vorsichtig löste er sich von ihm. Er zitterte noch immer. Aber er kam wieder allein klar.
»Demnächst bitte mit Vorwarnung, okay?«, sagte Christian und wischte sich über den Hals. »Alles nass.«
»Entschuldige«, sagte Merlin. Immer wieder musste er nach Luft schnappen. Vorsichtig legte er sich zurück. Einen solchen Heulkrampf kannte er nur aus seiner Kindheit. Irgendwie fühlte er sich jetzt albern.
»Geht's wieder?«, fragte Christian und legte die Hand auf seinen Oberschenkel.
Merlin nickte.
»Gut, dann wechsel ich jetzt mein T-Shirt.« Christian ging an ihm vorbei in Richtung Tür. »Das heulst du mir dann aber nicht voll, versprochen?«, sagte er noch, bevor er das Wohnzimmer verließ.
Merlin antwortete nicht. Er wollte mit geschlossenen Augen einfach warten, bis er wieder normal atmen konnte. Oder vielleicht auch gleich einschlafen, damit er Christian nicht ansehen musste. Es war ihm peinlich, einen solchen Gefühlsausbruch hingelegt zu haben. Andererseits war er wirklich dankbar, dass er nicht allein gewesen war. Nur, eigentlich hätte ihn David trösten müssen, oder? So hatte er einen wirklich intimen Moment mit Christian geteilt, obwohl er doch David liebte. War das letztlich nicht schlimmer als mit irgendwem Sex zu haben? Er hatte seine innersten Gefühle einem anderen offenbart, nicht seinem Freund.
Als Christian wieder reinkam, legte er nur eine dünne Decke über ihn. »Wenn du nicht allein sein willst, kannst du zu mir ins Bett kommen. Ich bin artig, versprochen.«
Merlin spürte eine Hand, die ihm über den Kopf streichelte. Er entschied sich, nicht zu antworten. Nicht mal zu einem Nicken konnte er sich durchringen. Er wollte einfach nicht da sein.
Zweite Woche
Sonntag bis Freitag
Sonntag
Liebessucht
Das Salz
Auf deiner Haut
Schmeckt mir
Wie Zucker
Wunderbar
Vertraut
Drum geb ich mich
Deiner Liebe hin
Weil ich süchtig
Nach deiner Süße bin
M. Nagy
64
Die Sonnenstrahlen weckten David. Sonntag, dachte er. Immer noch einen Tag von Merlin entfernt. Verdammt, das war ja schlimm, durchfuhr es ihn, er konnte ja an nichts anderes mehr denken, als an diesen Jungen. Dabei kannten sie sich doch kaum. Aber irgendwie kam es David so vor, als wohnte er schon Ewigkeiten hier.
Unten in der Küche klapperte seine Mutter mit dem Frühstücksgeschirr. Sicher würde sie gleich rufen und fragen, ob er nicht runterkommen wollte, um mit ihnen gemeinsam zu frühstücken, wie jeder normale Sohn. Die letzten Worte schwirrten ihm eine Weile im Kopf rum. Er war nicht normal. Bislang hatte er sich zwar immer Mühe gegeben, doch seit gestern war es sicher: David war nicht normal, er war schwul. Es gab eigentlich keinen Grund mehr, sich irgendwie normal zu stellen. Ihm fiel das gestrige Gespräch mit Selma wieder ein. Für wie selbstverständlich sie das alles genommen hatte. Sie hatte ihm sogar angeboten, dass er zu ihr kommen konnte, wenn er Hilfe brauchte. Das nahm ihm natürlich nicht die Angst, aber es war immerhin eine gute Erfahrung. Es gab Menschen, die hinter ihm standen und die ihm helfen würden, die ihn so nahmen, wie er nun mal war. Aber, wie sicher war das alles? Wenn er an Merlins Problem mit Paolo dachte, wusste er, dass dieser Rückhalt keiner war, auf den er sich verlassen konnte. Irgendwie tat ihm Selma leid. Sie war so nett und hilfsbereit, sie hatte für alles Verständnis und schien sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Und ausgerechnet sie traf es letztlich so bitter. David konnte nicht verstehen, was sie an diesem Paolo fand. Sicherlich sah er alles andere als schlecht aus. Aber seine Art, sein ganzes Verhalten wies doch schon mehr als deutlich darauf hin, dass man von ihm nichts Ernsthaftes erwarten konnte. Wenn er es so sah, blieb ihm fast nichts anderes, als Selma die Schuld zuzuschieben. Warum hatte sie sich auf Paolo eingelassen? Sonst schien sie doch so besonnen und vor allem in
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