Das Meer in seinen Augen (German Edition)
das angeblich Merlin gehörte. Es musste ihm aus der Tasche gefallen sein, hatte David gesagt.
»Ich glaube, diesbezüglich können wir David voll und ganz vertrauen«, sagte Ansgar steif. »Immerhin hat er ja wohl eine Freundin.«
»Ja«, stimmte Hanne zu. Aber zum ersten Mal zweifelte sie an der Geschichte. Plötzlich war sie davon überzeugt, dass David ihr diese Ausrede nur aufgetischt hatte, um der peinlichen Wahrheit aus dem Weg zu gehen. Es passte alles zu gut und schien doch zu weit hergeholt.
»Das Kondom«, sagte sie schließlich nachdenklich. »David hat gesagt, dass es von Merlin ist.« Sie schwieg. In ihrem Kopf wälzten sich Befürchtungen hin und her, die ihrer Meinung nach keine Mutter haben sollte. »Ich finde das komisch, du nicht?«
Ansgar zuckte mit den Schultern. »Ich sagte doch schon, er wird bei unserem Jungen nicht weit kommen damit.«
»Und wenn doch?«, flüsterte Hanne. Sie konnte diese Gedanken nicht mehr beiseite schieben. Irgendwas am Verhalten ihres Sohnes verriet ihr, dass sie sich besser auch Gedanken über solche Dinge machen sollte.
»Hanne, ich will nicht darüber spekulieren. David ist nicht homosexuell, basta.« Ansgars Stimme klang wütend. Er sagte das so, als könnte er es bestimmen. Es kam einfach nicht in Frage und damit gut.
»Aber was wäre, wenn doch?« Hanne konnte nichtlocker lassen, aber Ansgar reagierte nicht mehr. Seine Konzentration galt wieder dem Fernseher. Er schaltete ein paar mal um, bis er ein anderes Programm gefunden hatte, das ihm besser gefiel.
Hanne blieb in Gedanken bei den Atombomben. Zwar wollte und konnte auch sie sich nicht vorstellen, dass ihr Sohn homosexuell war, aber sie musste diese Möglichkeit einfach in Betracht ziehen. Plötzlich schien es ihr absolut verständlich, dass die Familie drüben so seltsam war. Wahrscheinlich wussten sie, dass ihr Sohn ... Und sie hatten nichts gesagt! Der Schreck fuhr Hanne in die Glieder. Wenn die Mutter es doch wusste, wie konnte sie einfach eine Einladung ausgeben, ohne vorher darüber zu informieren? Es musste ja nicht direkt eine Warnung sein, aber zumindest ein kleiner Hinweis. Immerhin wusste diese Selma, dass sie David mitbringen würden. Dann hielt Hanne inne. Wie würde sie sich in einer solchen Situation verhalten? Würde sie es sagen? Nein. Plötzlich tat ihr die Frau leid. Sicher schämte sie sich für ihren Sohn und wünschte sich insgeheim, dass er sich ein Beispiel an David nehmen würde. Nein, Hanne würde so etwas sicher auch verschweigen. Es war letztlich nicht nur das Ansehen der Familie, das darunter litt, sondern auch ... Hanne wurde sich bewusst, dass Selma niemals Enkelkinder haben würde. Wie schrecklich! Ihr Hals wurde plötzlich eng. Selma würde nie das Glück haben, ihren Sohn glücklich verliebt zu sehen. Sie würde keine Hochzeit erleben. Keine Fotos von ihren Enkeln rumreichen können. Ja, sie würde überhaupt keine richtige Familie haben. Das war das Schlimmste überhaupt. Wenn Hanne sich vorstellte, dass ihr selbst das auch passieren konnte ... Augenblicklich stiegen ihr Tränen in die Augen.
63
Merlin ließ sich zur Seite kippen. Das Telefon lag neben ihm. Er sah es verschwommen an. Immerhin hatte er es geschafft, mit David zu sprechen. Jetzt würde er schlafen können.
»Hey«, sagte Christian. »Du machst doch nicht schon schlapp, oder?« Er schubste ihn an.
»Ich glaube doch«, nuschelte Merlin.
»Wenn ich gewusst hätte, dass dein Freund eine solch einschläfernde Wirkung hat, hätte ich dich nicht mit ihm telefonieren lassen.«
»Er hat so eine schöne Stimme.« Mühsam stemmte sich Merlin hoch, bis er wieder neben Christian saß. »Hattest du das schon mal, dass du jemanden hören musst, weil du sonst auf keinen Fall einschlafen kannst?«
»Ja«, sagte Christian und kippte sein Glas wieder voll. Mittlerweile hatten sie die Getränke gleich auf dem Tisch stehen, weil der Weg zum Kühlschrank viel zu weit schien.
»Ich glaube, seine Mutter hat was gemerkt«, murmelte Merlin. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Frau Gessen ihn am liebsten weggedrückt hätte, anstatt ihren Sohn ans Telefon zu rufen. Ja, es wunderte ihn geradezu, dass sie nicht einfach wieder aufgelegt hatte.
»Was hat sie gemerkt?«, fragte Christian und zog seine Stirn kraus.
»Dass ich was von ihrem Sohn will«, sagte Merlin. »Vielleicht auch, dass was zischen ihm und mir läuft. Die traut mir nicht über den Weg, das kannst du mir glauben.«
»Ach du Scheiße!«, rief Christian.
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