Das Meer in seinen Augen (German Edition)
völlig ungelenk und steif vor.
»Deine Mutter hat was dagegen, wenn du mit Merlin zusammen bist, oder?«, fragte sie nach ein paar Minuten. Ihre Stimme war vollkommen ruhig, so als müsste sie sich kein bisschen anstrengen. David dagegen fühlte sich, als würde er jeden Moment von dem Ding runterfallen. Seine Beinmuskeln waren permanent angespannt. Krampfhaft hielt er sich an den Stangen fest.
»Ja«, presste er irgendwann heraus.
»Das dachte ich mir«, sagte Selma. »Ich glaube, sie würde alles, was darüber hinausgeht, auch nicht verstehen.« Nach einer Weile fügte sie an: »Schade.«
David sah sich um. Es war ihm unangenehm, hier in der Öffentlichkeit über so was zu reden. Aber weit und breit war niemand in Sicht, der ihnen zuhören konnte.
»Ich glaube - sie würde - ausflippen«, hechelte er.
»Das kann ich mir gut vorstellen.« Selma sah ihn mitleidig an. »Nicht, dass es für mich nicht auch irgendwie schwierig war, mich auf die Situation einzustellen und mich von meinen Träumen zu verabschieden ...« Sie sah wieder nach vorn. Vor ihnen lag die Kreuzung. In regelmäßigen Abständen hielten Autos vor den Ampeln und warteten, dass sie endlich weiterfahren durften.
David ließ sich von der Glasfront gefangen nehmen. Im Anschluss an die Kreuzung sah er die kleine Grünfläche mit der Bank, auf der er gesessen hatte, während Merlin hier oben trainiert hatte.
»Denkst du darüber nach, es ihr irgendwann zu sagen?«, fragte Selma plötzlich und riss ihn aus seinen Gedanken.
Automatisch wurde sein Tritt schneller. »Ich - ich weiß - nicht«, presste er hervor.
Selma nickte. »Sicher nicht so einfach, wenn man nicht weiß, was einen danach erwartet.«
»Ja«, sagte David knapp.
»Vielleicht ist es gar nicht so verkehrt, damit zu warten, bis du dir eine andere Sicherheit aufgebaut hast.«
David runzelte die Stirn. Das war genau das, worüber er heute morgen noch nachgedacht hatte.
»Ich meine«, erklärte Selma, »Merlin hat sicherlich seine Macken und manchmal verstehe ich ihn auch nicht. Aber er ist ein guter Junge.« Sie lachte auf. »Was rede ich hier eigentlich? Das sagt sicher jede Mutter von ihrem Kind!«
David grinste. »Aber - es stimmt«, sagte er atemlos. Langsam ließ er seinen Tritt ausklingen, während er sich weiterhin krampfhaft festhielt.
»Oh«, machte Selma. »Was ist?«
»Ich - ich kann - nicht mehr.« Verschämt stieg er von dem Gerät ab und blieb auf wackeligen Beinen daneben stehen.
»Ungewohnt, was?«
David nickte.
»Hast dich aber ganz tapfer geschlagen«, sagte Selma und grinste. »Du hättest mal Merlin sehen sollen, als er zum ersten Mal auf den Crosstrainer gestiegen ist.«
David lächelte matt. Wenigstens befand er sich in guter Gesellschaft.
Nach ein paar Minuten ging er zu einem der Laufbänder rüber und probierte da sein Glück. Das fiel ihm leichter, stellte er erleichtert fest.
67
Merlin aß die Käsebrötchen auf und krümelte sich dabei auf die nasse Brust. Irgenwie fand er es lustig, in der Badewanne zu sitzen und gleichzeitig zu essen. Er konnte sich nicht erinnern, so was schon mal gemacht zu haben. Entspannt legte er sich zurück. Die Ruhe vor dem Sturm musste er genießen. Und Sturm würde es geben, sobald er wieder zu Hause war. Allein die Fragen, die er seiner Mutter beantworten musste, weil er einfach so geflüchtet war, ohne ihr vorher etwas zu sagen. Immerhin konnte er sich noch halbwegs daran erinnern, dass sie gestern während des Telefonats ganz normal geklungen hatte. Fast schien es ihm, als hätte sie mit seinem Anruf gerechnet. Einen Moment dachte er darüber nach, ob sie nicht vielleicht viel mehr wusste - über ihn und Paolo. Was, wenn er ihr davon erzählte und sie lediglich nickte, weil sie schon längst dahintergestiegen war? Nein, das konnte sich Merlin nicht vorstellen. Das ging definitiv zu weit. Seine Mutter hatte zwar manchmal eine unheimliche Fähigkeit, Dinge vorauszuahnen und sie war auch unglaublich gut darin, anderen Menschen ihre Gefühle vom Gesicht abzulesen, aber dass sie auch das wissen könnte ... Nein, das konnte sich Merlin nicht vorstellen. Aber vielleicht war es genau das: Er konnte sich viele Sachen einfach nicht vorstellen, wohingegen seine Mutter geradezu mit allem zu rechnen schien.
Er lehnte sich über den Badewannenrand und stellte den leeren Brötchenteller auf den Fußboden. Mit dem letzten Bissen im Mund tauchte er unter. Auch das war etwas, was er noch nie gemacht hatte. Mit geschlossenen Augen
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