Das Meer in seinen Augen (German Edition)
Stimme war das einzige, was sie noch aufrecht hielt. »Verschwinde!«
David beeilte sich hinauszukommen. Selma hatte die Augen geschlossen und gab sich dem Schwindelgefühl hin, als die Haustüre ins Schloss gezogen wurde.
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»So, so, was vergessen«, sagte Paolo, als David zu ihm in den Wagen stieg.
»Ja«, entgegnete David zögerlich, »hab ich doch gesagt, mein Portemonnaie.«
Paolo grinste breit. »Aber das hattest du doch die ganze Zeit in der Hose.« Sein Blick durchbohrte David. »Oder hast du mehrere?«
»Also - nein«, presste David hervor. »Ich - ich dachte nur, ich hätte es vergessen ...« Er wusste genau, dass Paolo die Lüge durchschaute. Aber was wirklich passiert war, das konnte er nicht wissen. Oder etwa doch? Paolos Augen waren so unergründlich, dass er alles hineininterpretieren konnte. Irgendwie war dieser Blick nicht menschlich, durchfuhr es ihn. Dann startete Paolo endlich den Motor und ließ den Mercedes langsam vor der Trauerweide wenden. David wurde das Gefühl nicht los, dass Paolo alles wusste. Aber wenn, dann störte er sich kein bisschen daran. Seinem selbstgefälligen Gesichtsausdruck nach, schien es eher, als liefe für ihn alles genau nach Plan. Das war natürlich absurd. Paolo konnte von nichts wissen. Und heute abend stand ihm eine Überraschung ins Haus, deren Auswirkung sein Leben grundlegend verändern würde. David schloss die Augen. Und was war mit ihm selbst? Auch er würde diese Auswirkungen zu spüren bekommen.
»Bist ja schwer in Gedanken, was?«, fragte Paolo und lachte. »Hast du doch noch was vergessen?«
»Nein«, sagte David schnell. Misstrauisch betrachtete er Paolos Profil. Vielleicht hatte er doch etwas vergessen? Er dachte kurz an Merlin und seine wunderschönen Augen, die ihm die Freiheit versprachen. Hatte er richtig gehandelt?
Paolo bremste den Wagen ab und lenkte ihn auf einen Parkplatz direkt hinter einem großen Bürogebäude. Sie waren schon da, stellte David erstaunt fest.
»Dann wollen wir deinen Vater mal ein wenig überraschen, was?« Paolo lachte und zwinkerte ihm zu.
David fühlte sich plötzlich leichter. Für einen winzigen Augenblick hatte er in Paolos Augen eine Aufrichtigkeit entdeckt, die ihn erstaunte. Er stieg aus.
»Hast du Angst?«, fragte Paolo und schob ihn auf den Eingang zu.
»Nein«, antwortete David automatisch. Die Frage überrumpelte ihn ein wenig. Natürlich machte er sich Gedanken. Was würde sein Vater wohl sagen, wenn er jetzt einfach so mit Paolo auftauchte. Sicher würde er das als eine Art Betrug empfinden. Aber auch die Tatsache, dass er noch gar nicht genau wusste, was eigentlich für Arbeit auf ihn zukommen würde, machte ihn unsicher. Vielleicht konnte er das, was nun von ihm verlangt wurde, ja überhaupt nicht. Womöglich würde er seinen Vater noch blamieren.
Die Empfangsdame lächelte ihnen grüßend zu. David nickte nur automatisch. Er spürte auf seinem Rücken Paolos Hand, die ihn sanft aber bestimmt zu den Aufzügen dirigierte.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte Paolo unerwartet. »Keiner verlangt von dir, dass du alles sofort kannst. Und wenn du erst mal richtig eingearbeitet bist, wirst du über deine Bedenken lachen.«
David schluckte. »Ich habe keine Bedenken«, log er. Die Aufzugtüren glitten lautlos auseinander und Paolos Hand schob ihn in den Lift. Einen Moment standen sie sich schweigend gegenüber. David wartete darauf, dass sich die Türen endlich wieder schlossen. Irgendwie empfand er es als seltsam, mit Paolo in diesem engen Raum zu stehen. Kurz blitzte das Verlangen in ihm auf, im letzten Moment doch noch aus dem Aufzug zu springen und einfach nach Hause zu rennen. Dann schoben sich die Metalltüren zusammen und trennten sie von der Empfangshalle ab. Mit einem weichen Ruck setzte sich der Lift in Bewegung.
»Liebst du Merlin?«, fragte Paolo unvermittelt.
David sah Paolo überrascht an. Wie konnte dieser Mann ausgerechnet jetzt eine solche Frage stellen? Vor nicht mal zwanzig Minuten hatte er der bislang einzigen Liebe in seinem Leben den Todesstoß verpasst, und jetzt fragte ... David war sprachlos. Hilflos richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Boden.
»Entschuldige«, sagte Paolo sanft. »Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.«
David spürte eine Hand auf seiner Schulter. Er war hin- und hergerissen. Einerseits verabscheute er diesen Mann. Ja, er hasste ihn regelrecht. Paolo hatte mit Merlin geschlafen, er hatte Selma betrogen und geschlagen!
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