Das Meer in seinen Augen (German Edition)
endlich! Merlin zerriss das Zettelchen und ließ es in seinen Rucksack fallen. Er hatte jetzt absolut keine Lust auf solche Spielchen. Diese ewige Drängelei anderer ging ihm gehörig gegen den Strich.
»Geht's dir nicht gut?«, fragte David ihn plötzlich. Sanft legte er seine Hand auf Merlins Arm.
»Ach, schon gut«, sagte Merlin und zog seinen Arm weg. »Ich glaube, ich bin heute ein wenig gereizt, das ist alles.« Er strich sich über die Stelle, auf der zuvor noch Davids Hand gelegen hatte.
David sah ihn lange an. Es kam Merlin vor, als wollte er etwas prüfen. Dann sagte er schließlich: »Wenn irgendwas ist - also - wenn du Lust hast drüber zu reden ...«
»Danke«, sagte Merlin hölzern. Wie oft hatte er diesen Satz schon gehört? Das schien das Standartrepertoir der Heterosexuellen zu sein, wenn sie schwule Problematiken witterten. Wortlos stand er auf und verließ das Klassenzimmer. Herr Hürling, der Mathelehrer, sah verdutzt hinter ihm her. Doch darauf konnte Merlin gerade keine Rücksicht nehmen. Er brauchte einfach mal einen Moment für sich. Irgendwie war das alles doch nicht so leicht, wie er sich das vorgestelle. Natürlich hatte er auch früher schon Jungs aus der Schule ganz nett gefunden und dem ein oder anderen auch mal hinterhergeschaut. Aber er hatte sich dabei stets unter Kontrolle gehabt. Wenn er sich sagte, dass dieser Blick genügen musste, dann konnte er sich daran halten. Die Jungen aus der Schule waren für ihn tabu. Bei David war das aber leider anders. Er hatte sich von seiner Mutter drängen lassen, ja, sie hatte ihn regelrecht in eine Zwickmühle aus Gedankenspielen geschubst. Hier ein paar unerfüllte Sehnsüchte, da ein paar in Aussicht gestellte Möglichkeiten, alles gut gemischt mit seinen Wünschen und Erwartungen, unter einer Trarnkappe aus Illusionen herangezüchtet. Kurzum, seine Mutter hatte ihm wieder mal Flausen in den Kopf gesetzt und er war ihr erlegen. Seine Träume hatten ihn dazu gebracht, auf David zuzugehen und damit war eine Lawine aus Hoffnungen ins Rollen gekommen, die ihn nun mit sich riss. Im Grunde hatte er gar keine Chance gehabt, dem Charme dieses blonden Jungen zu widerstehen. Und wie konnte er auch, wenn ihm seine beste Freundin noch dazu pausenlos Öl in die feurigen Fantasien goss? Merlin versuchte daran zu glauben, dass David schon allein deshalb ein Traum bleiben würde, weil er letztlich gar nicht schwul war. Das wusste er nicht, nein, aber er musste es glauben, damit er von dieser Idee loskommen konnte, damit seine Prinzipien wieder griffen. Aber solange er noch einen Hauch von Möglichkeit erahnte, würde er sich so oft sagen können wie er wollte, dass eine Beziehung innerhalb eines Klassenverbandes einfach nicht gutgehen konnte.
Plötzlich ging die Klassentür auf. Linda kam heraus und sah ihn mit großen Augen an.
»Mein Gott, du siehst ja fürchterlich aus!«, sagte sie ohne Umschweife. »Geht's dir nicht gut?«
»Ach Quatsch, ich steh nur hier draußen, weil David tierisch einen hat fahren lassen.«
Linda sah ihn für einen Moment prüfend an. Fast befürchtete Merlin schon, dass sie seinen Scherz für bare Münze nahm. Aber dann lächelte sie. »So schlecht kann es dir in der Tat nicht gehen.«
»Stimmt, ich habe ein Dach über dem Kopf, Schulbildung, muss nicht hungern ...«
»Lass den Scheiß!«, sagte Linda und wischte seine Aufzählung mit einer herrischen Handbewegung fort. »Sag mir lieber was los ist!«
Merlin zögerte. »Ich - ich glaube, ich habe mich verknallt.«
»Und deswegen machst du so ein Theater?« Sie verdrehte die Augen. »Zugegeben, du bist nicht oft verknallt - eigentlich nie, wenn ich richtig drüber nachdenke - aber das ist doch kein Grund ...«
»In David«, flüsterte Merlin.
Linda schwieg. Dann sagte sie schließlich: »Das ging schnell.«
»Verdammt schnell, wenn du mich fragst.«
»Okay. Wo ist das Problem?«
»Das Problem?«, äffte er sie nach. Merlin wusste, dass sie ihn nicht verstehen würde. »Ich habe keinen Bock mir Ärger einzufangen.«
»Wieso denkst du bei allem immer gleich an die möglichen Folgen, Lin?« Sie schüttelte den Kopf. »Manchmal bist du echt schlimmer als meine Mutter und mein Vater zusammen, und das kann eigentlich nur der liebe Gott toppen.«
»Ach, du immer mit deinen Sprüchen«, sagte Merlin resigniert. »Ich weiß einfach nicht, wie ich mich verhalten soll. Am liebsten würde ich mich von ihm fernhalten. Das wäre sicher das Klügste.«
»Aber warum denn,
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