Das Mitternachtskleid
das bitte nicht übel, aber ich wünschte, ich wäre ebenso unterprivilegiert aufgewachsen wie du. Den Boffo-Katalog habe ich überhaupt nur entdeckt, weil ich einmal zwei Mägde dabei erwischt habe, wie sie unter lautem Gekicher darin herumblätterten, als ich in die Küche kam. Sie sind weggelaufen, aber den Katalog haben sie liegen lassen. Leider kann ich nicht so viel bestellen, wie ich gern möchte, weil mir meine Zofe nachspioniert und mich bei Mutter verpetzt. Aber die Köchin ist auf meiner Seite. Ich gebe ihr das Geld und die Bestellnummern, und sie lässt sich die Sachen zu ihrer Schwester nach Ham-am-Egg liefern. Allerdings kann ich keine großen Teile kaufen, weil die Hausmädchen beim Putzen und Abstauben in alle Ecken kommen. Dabei hätte ich so gern einen Kessel, der grün blubbern kann, aber du sagst ja, der ist auch nur ein Scherzartikel.«
Lätitia hatte noch ein paar Stöcke aus der Hecke geholt und sie vor sich in die Erde gesteckt. Auf allen Spitzen leuchtete ein blaues Licht.
»Für jeden anderen ist es auch ein Scherzartikel«, antwortete Tiffany. »Aber bei dir würden wahrscheinlich Brathähnchen herauskommen.«
»Denkst du wirklich?«, fragte Lätitia eifrig.
»Keine Ahnung, ob ich überhaupt noch denken kann, seit ich mit dem Kopf im Sand stecke. Weißt du was? Das klingt für mich ein bisschen nach Zauberermagie. Und dieser Trick … den hattest du aus dem Buch von Frau Gezieferlos? Ich sag’s nicht gern, aber das ist alles bloß Hokuspokus. Fauler Zauber. Es ist für Leute gedacht, die glauben, dass es beim Hexen nur um Blumen und Liebestränke geht und darum, dass man ohne Schlüpfer tanzt – was ich mir bei einer richtigen Hexe im Leben nicht vorstellen könnte …« Tiffany zögerte, und weil sie von Natur aus ein ehrlicher Mensch wahr, fügte sie hinzu: »Höchstens bei Nanny Ogg, wenn sie mal wieder der Hafer sticht. Das ist Hexerei ohne Ecken und Kanten, aber die echte Hexenkunst besteht nur aus Ecken und Kanten! Und du hast einen ihrer albernen Zaubertricks für kichernde Küchenmägde gegen mich verwendet, und er hat funktioniert! Gibt es eine richtige Hexe in deiner Familie?«
Lätitia schüttelte den Kopf; ihr langes blondes Haar glänzte sogar im Mondschein. »Nicht, dass ich wüsste. Mein Großvater war Alchemist – aber natürlich nicht beruflich. Seinetwegen hat das Schloss keinen Ostflügel mehr. Und Mutter… also, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie zaubert. Du etwa?«
»Deine Mutter? Auf jeden Fall!«
»Wenn ja, hab ich noch nie etwas davon mitbekommen. Aber sie meint es doch nur gut. Sie will für mich immer das Beste. Ihre gesamte Familie ist bei einem Brand umgekommen. Sie hat alles verloren«, sagte Lätitia.
Tiffany schaffte es einfach nicht, Lätitia nicht zu mögen. Genauso gut hätte man versuchen können, ein ratloses Hündchen nicht zu mögen. Eine Bemerkung konnte sie sich trotzdem nicht verkneifen: »Und du? Hast du es auch nur gut gemeint ? Als du dir eine Figur von mir gebastelt und mich kopfüber in einen Eimer Sand gesteckt hast?«
Lätitias Tränenvorräte waren offensichtlich noch immer nicht erschöpft. Der nächste Ausbruch konnte jeden Augenblick erfolgen.
»Hör zu«, fuhr Tiffany schnell fort. »Ich bin dir nicht böse, wirklich nicht. Ich befürchte nur, dass noch viel mehr dahintersteckt. Nimm mich einfach wieder raus aus dem Sand, und Schwamm drüber. Aber fang bitte nicht wieder an zu weinen; sonst stehen wir gleich knöcheltief im Matsch.«
Lätitia zog die Nase hoch. »Ja, gut. Bloß hab ich es leider nicht hier gemacht, sondern bei mir zu Hause. Der Eimer steht in der Schlossbibliothek.«
Das letzte Wort dieses Satzes ließ bei Tiffany ein Glöckchen klingeln. »Eine Bibliothek? Mit Büchern?« Hexen galten gemeinhin nicht als besonders lesefreudig, aber Tiffany verschlang jedes Buch, das ihr in die Finger kam. Man wusste ja nie, was man aus einem Buch herausholen konnte. »Es ist eine sehr warme Nacht für diese Jahreszeit«, sagte sie. »Und bis zu dir nach Hause ist es nicht so weit, oder? In ein paar Stunden könntest du schon wieder in deinem Himmelbett im Jungfernturm liegen.«
Zum ersten Mal, seit Tiffany sie kannte, lächelte Lätitia. Ein echtes, befreites Lächeln. »Darf ich diesmal vorne sitzen? «, fragte sie.
Tiffany glitt im Tiefflug über die Hügel.
Der fast volle Mond war ein echter Erntemond, kupferrot wie Blut. Das kam vom Rauch der abgeflämmten Stoppelfelder, der noch in der Luft hing. Wie
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