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Das Mitternachtskleid

Das Mitternachtskleid

Titel: Das Mitternachtskleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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bis er abgelöst wird. Ich glaube, Ihre Mutter gibt mehr auf das Erscheinungsbild ihrer Wachen als auf deren Verstand. Sogar der junge Preston ist für den Job besser geeignet als diese Kerle. Manchmal bemerken die Leute ihn erst, wenn er ihnen auf die Schulter tippt. Wussten Sie eigentlich, dass kaum jemand zu schreien anfängt, solange man auf ihn einredet? Keine Ahnung, warum. Wahrscheinlich, weil man uns zur Höflichkeit erzogen hat. Und falls Sie jetzt immer noch mit dem Gedanken spielen, tatsächlich um Hilfe zu rufen, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ich Sie, wenn ich Ihnen etwas antun wollte, schon längst hätte erledigen können. Meinen Sie nicht auch?«
    Die Pause fiel um einiges länger aus, als es Tiffany behagte. Dann sagte Lätitia: »Es ist Ihr gutes Recht, wütend zu sein. Sie sind doch wütend, oder?«
    »Augenblicklich nicht. Aber hören Sie, wollen Sie nicht Ihre Milch trinken, bevor sie kalt wird?«
    »Ehrlich gesagt, kippe ich sie immer ins Klosett. Ich weiß, dass man gute Lebensmittel nicht umkommen lassen soll und dass sich viele hungrige Kinder über ein Glas warme Milch vor dem Schlafengehen riesig freuen würden, aber auf meine müssen sie sowieso verzichten, weil meine Mutter mir immer ein Schlafmittel hineinrühren lässt.«
    »Wie bitte?«, fragte Tiffany ungläubig.
    »Sie denkt, ich brauche es. Aber das stimmt nicht. Sie haben ja keine Ahnung, wie es mir geht. Ich komme mir vor wie eine Gefangene.«
    »Na, wie es einem als Gefangene geht, weiß ich jetzt wohl«, antwortete Tiffany. Worauf das Mädchen im Bett prompt wieder zu weinen anfing und Tiffany sie mit einem Schscht! zum Schweigen brachte.
    »Ich wollte nicht, dass es dermaßen aus dem Ruder läuft«, sagte Lätitia und trompetete in ihr Taschentuch. »Ich wollte doch nur, dass Roland Sie nicht mehr so gern hat. Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, ich zu sein! Ich darf überhaupt nichts, außer malen. Und auch bloß Aquarelle. Noch nicht mal Kohlezeichnungen!«
    »Das war mir auch schon aufgefallen«, sagte Tiffany geistesabwesend. »Roland hat sich mal eine Zeitlang mit Jod, der Tochter von Lord Taucher, geschrieben. Die war auch dauernd am Aquarellieren. Ich dachte damals, es wäre vielleicht eine Art Strafe.«
    Aber Lätitia hörte ihr gar nicht zu. » Sie brauchen nicht rumzuhocken und Bilder zu malen. Sie können die ganze Zeit frei durch die Gegend fliegen«, sagte sie. »Leute rumkommandieren, interessante Sachen machen. Ja-ha, als Kind wollte ich auch Hexe werden. Aber Pustekuchen. Mit meinen langen blonden Haaren, dem blassen Teint und einem schwerreichen Vater? Wie sollte das gehen? Solche Mädchen können keine Hexe werden!«
    Tiffany lächelte. Endlich kamen sie der Wahrheit näher. Jetzt hieß es, hilfsbereit und freundlich zu bleiben, damit der Damm nicht erneut brach und sie beide weggespült wurden. »Hatten Sie als Kind ein Märchenbuch?«
    Lätitia schnäuzte sich. »Natürlich.«
    »War auf Seite sieben zufälligerweise ein Bild von einem schrecklichen Kobold? Ich hab immer die Augen zugemacht, wenn ich bis zu ihm durchgeblättert hatte.«
    »Ich hab ihn mit einem schwarzen Stift total zugekrakelt«, sagte Lätitia leise. Sie schien froh zu sein, mit jemandem darüber reden zu können.
    »Sie konnten mich nicht leiden. Und deshalb haben Sie beschlossen, Magie gegen mich einzusetzen …« Tiffany tastete sich äußerst behutsam vor, um ja nicht den nächsten Sturzbach auszulösen. Und es schien zu funktionieren. Lätitia griff zwar erneut nach einem Taschentuch, aber sie fing wenigstens nicht sofort wieder an zu weinen – sondern erst … gefühlte zwei Sekunden später.
    »Es tut mir so leid! Ich konnte das ja nicht wissen, sonst hätte ich doch nie – «
    »Vielleicht sollte ich Ihnen erklären«, sagte Tiffany, »dass Roland und ich… nun ja, Freunde waren. Mehr oder weniger die einzigen, die wir hatten. Aber irgendwie war es die falsche Art von Freundschaft. Wir haben uns nicht zusammengetan, wir wurden eher durch die Ereignisse zusammengewürfelt. Doch das haben wir nicht gemerkt. Er war der Sohn des Barons. Und wenn man erst weiß, dass man der Sohn des Barons ist, und wenn alle Kinder wissen, wie sie sich dem Sohn des Barons gegenüber zu verhalten haben, bleiben nicht mehr viele Leute übrig, mit denen man reden kann. Und bei mir war es genauso. Ich war die Streberin, die eine Hexe geworden war. Und ein Beruf wie meiner lässt einem nicht viel Zeit, seine sozialen Kontakte zu

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